Warum Stadtwerke ihre Komfortzone verlassen müssen
Stadtwerke haben ein vielfältiges Aufgabenspektrum, welches sich von Kommune zu Kommune unterscheidet. Neben der Bereitstellung und dem Betrieb der öffentlichen Infrastruktur für Strom, Gas, Wärme, Wasser und dem öffentlichen Nahverkehr, übernehmen einige Stadtwerke auch Aufgaben im Bereich Telekommunikation, Wohnungswirtschaft, Stadtreinigung und Bäderbetrieb. Was allerdings allen Stadtwerken gemein ist, ist der kommunale Versorgungsauftrag. Neben der Gewährleistung dieses Auftrages sind Stadtwerke auch am Gemeinwohl, das heißt an der kontinuierlichen Verbesserung der Lebensverhältnisse vor Ort interessiert.
In der Vergangenheit waren Stadtwerke kaum mit Wettbewerb konfrontiert. Das stabile Marktumfeld forderte von kommunalen Versorgungsunternehmen nur geringe Anpassungen ihres Leistungsangebots.
Jedoch spüren auch Stadtwerke seit einigen Jahren Veränderungsdruck. Sowohl bestehende als auch neue, branchenfremde Wettbewerber bedrohen ihr Kerngeschäft. Beispielsweise betritt der Autobauer VW mit seinem Ökostrom-Anbieter Elli den umkämpften Strommarkt. Oder das Startup Bürgerwerke, das Bürgern ermöglicht die Energieversorgung durch eine Vielzahl dezentraler Anlagen selbst in die Hand zu nehmen und zu steuern. Diese Wettbewerber dringen mit innovativen Geschäftsmodellen in den Markt und erhöhen den Margendruck. Die fortschreitende digitale Transformation verändert dabei nicht nur etablierte Geschäftsprozesse. Kunden erwarten immer mehr digitalisierte und auf persönliche Bedürfnisse zugeschnittene Produkte und Services. Druck auf das Geschäft der Stadtwerke entsteht zudem im Rahmen der Energiewende durch den Ausbau erneuerbarer Energien, die Entwicklung von Dienstleistungen rund um das Kerngeschäft, sowie die Verschmelzung bestehender Geschäftsfelder wie z. B. in der Elektromobilität.
Diese sich verändernden Rahmenbedingungen bedeuten für Stadtwerke dabei nicht nur große Herausforderungen, sie eröffnen auch neue Chancen. Die kommunale Verankerung und das breite Leistungsangebot bieten großes Potential, Produkte und Dienstleistungen für die Menschen der jeweiligen Region passgenau und sektorenübergreifend zu entwickeln. Um diese Chance zu nutzen, müssen auch Stadtwerke (interne) Veränderungsprozesse anstoßen. Nur wenn sie Strukturen, Prozesse und Haltung dem Wandel anpassen, bleiben sie als Unternehmen im neuen Wettbewerb handlungsfähig und können ihre Stärken ausspielen.
Wie sieht diese Veränderung aus? Wie können Stadtwerke vorgehen, um den Auftrag kommunaler Daseinsvorsorge weiter auszuführen und sich gleichzeitig fit für die Zukunft aufzustellen?
Veränderungsstrategien, um Herausforderungen in Chancen zu verwandeln
Wenn das Ziel ist, etablierte Geschäftsprozesse und -modelle weiterzuentwickeln, neue Lösungen zu denken und bestehende Stärken bestmöglich zu nutzen, helfen drei Schritte notwendige Veränderungen anzustoßen und umzusetzen.
Schritt 1: Vision definieren
Der erste Schritt ist die Entwicklung einer unternehmensweiten, über allen Fachbereichen stehenden Vision und einem einhergehenden (neuen) Selbstverständnis, das den neuen Herausforderungen begegnet. Sehr wahrscheinlich bedeutet das einen Wandel. Stadtwerke befinden sich in einem Spannungsverhältnis zwischen Gewinn- und Gemeinwohlorientierung. In diesem Kontext muss sich das Unternehmen positionieren und transparent darstellen, welche Strategie es verfolgt und warum. Mitarbeitende und Kunden müssen verstehen, warum sich das Unternehmen verändert und welche Leitplanken es gibt. Eine glaubhafte Definition der Werte des Unternehmens ist ebenso notwendig, wie die Ableitung von Prinzipien, die das tägliche Handeln der Mitarbeitenden prägen.
Wichtig ist, dass die Vision von den Mitarbeitenden verstanden und für das eigene Handeln übersetzt werden kann. Eine Methode ist die kollaborative Visionsentwicklung mit dem sogenannte „Golden Circle“ von S. Sinek. Mit diesem Werkzeug können Mitarbeitende aller Ebenen an der Visionsentwicklung teilhaben und gleichzeitig Verantwortung für die Ergebnisse übernehmen. Die drei Ebenen Warum, Wie und Was helfen, die Gründe des Veränderungsprozesses darzustellen, die Herangehensweise zu formulieren und konkrete Maßnahmen abzuleiten.
Schritt 2: Ökosystem verstehen
Neben der Erarbeitung einer gemeinsamen Basis müssen Stadtwerke die sich verändernden Ökosysteme verstehen. Das Wissen um die alten und neuen Akteure, deren Kontext und deren Beziehung ist maßgeblich für schnelle und nachhaltige Veränderung. Fehlendes Wissen und Verständnis hingegen bremsen Initiativen aus. Ein hilfreiches Werkzeug für die Übersicht relevanter Akteure sind Stakeholdermaps. Dieses Werkzeug zeigt die Akteure und deren Einfluss. Bestehende Stakeholder werden identifiziert und eingeordnet. Darüber hinaus werden auch die in Zukunft wünschenswerten Akteure in diesem System gesammelt, um herauszufinden wie sie bestmöglich integriert werden. Besonders wenn es um die Entwicklung neuer (digitaler) Geschäftsmodelle geht, sind Akteure wie Startups, Bürger, aber auch andere kommunale Unternehmen spannende potentielle Partner für die gemeinsame Entwicklung und Umsetzung neuer Ideen.
Beispiele für die Entwicklung solcher Ökosysteme lassen sich bereits finden: Die Stadtwerke Düsseldorf haben mit dem Co-Working Space „Denkfläche“ eine physische Infrastruktur geschaffen, die Startups, Freelancern und anderen Kreativen unter anderem einen direkten Austausch mit Experten des Unternehmens ermöglicht. Darüber hinaus gibt es kommunale Netzwerke, wie den Verband Kommunaler Unternehmen (VKU), die unter anderem über Hackathons oder die VKU-Serviceplattform Schnittstellen zwischen Digital- und Innovationsexperten sowie kommunalen Unternehmen schaffen. Diese Ideen gilt es aufzugreifen, zu adaptieren oder als Inspiration zu nutzen.
Schritt 3: Neue nutzerzentrierte Produkte und Dienstleistungen entwickeln
An der Schnittstelle von Energieversorgung, öffentlichem Nahverkehr, Freizeit- und Wohnungsangeboten befinden sich Stadtwerke in einer guten Ausgangslage für die bereichsübergreifende Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen. Die kommunale Verankerung und das damit einhergehende Vertrauen ermöglicht, Synergien zu erkennen und umzusetzen.
Produkte für und mit dem Kunden kreieren
Bei der Entwicklung neuer Produkte und Dienstleistungen muss der Kunde in den Mittelpunkt gestellt werden. Nutzer fragen sich heute nicht mehr ob ein Produkt existiert, sondern eher wo das passende Produkt zu finden ist. Die Entscheidung für oder gegen ein Angebot steht und fällt nicht mit der Verfügbarkeit, sondern mit dem Nutzen bzw. dem Mehrwert, den ein Produkt liefert. Das Ziel muss sein, entsprechende Mehrwerte für Kunden zu maximieren. Je besser die Bedürfnisse und Probleme von Nutzern verstanden werden, desto besser wird das neue Angebot.
Am Beispiel des Nahverkehrs bedeutet das: Kunden möchten in den meisten Fällen nicht explizit mit der Straßenbahn fahren, sie möchten von A nach B kommen. Die Form des Transportmittels ist zunächst nur bedingt relevant. Neue Produkte und Service werden in diesem Zusammenhang am besten entwickelt, wenn Unternehmen die eigentliche Aufgabe des Kunden verstehen. Erst mit dem Verständnis der Bedürfnisse und Probleme hinter dieser eigentlichen Aufgabe können Mehrwerte abgeleitet und angeboten werden. Im Falle der Fahrt mit der Straßenbahn könnte das bedeuten, dass der Kunde auf dem Weg von A nach B zum Beispiel am liebsten seine Tageszeitung liest oder erste Emails beantwortet. WLAN ist an dieser Stelle ein relevanter Mehrwert.
Um entsprechende Bedürfnisse herauszufinden, sollten Kunden in die Produktentwicklung integriert werden. Denn Nutzende können ihre Herausforderungen und Bedürfnisse am besten selbst formulieren und beurteilen, was einen Mehrwert schafft.
Commitment der Führungsebene sicherstellen
Um nutzerzentrierte Entwicklung nachhaltig zu ermöglichen, sind häufig interne kulturelle und strukturelle Veränderungen notwendig. Erforderliche Grundlage für Veränderungsprozesse ist daher die Unterstützung und das Commitment der Führungsebene. Die Bereitstellung von notwendigen Ressourcen in Form von Mitarbeitenden, Zeit, Raum und Geld, die Verankerung des Themas innerhalb des Unternehmens und unter Umständen auch die Priorisierung von Maßnahmen ist ohne eine überzeugte Geschäftsführung kaum möglich.
Mit Leuchtturmprojekten Überzeugung für nutzerzentriertes Arbeiten stiften
Die beschriebenen neuen Ansätze und Prozesse lassen sich in den seltensten Fällen kurzfristig und flächendeckend in eine Organisation tragen. Der Wettbewerb mit neuen Akteuren macht es dazu noch erforderlich, über etablierte Bereichsgrenzen hinaus zusammenzuarbeiten. Auch sind die zu entwickelnden neuen Lösungen oft keiner bestehenden Abteilung zuzuweisen, weshalb es empfehlenswert ist, entsprechende Projekte auszugliedern, z.B. in separaten Geschäftseinheiten. Entscheidungswege werden kurz gehalten und notwendiger Freiraum geschaffen. Die Herangehensweise an die Entwicklung neuer Produkte und Services erfordert Know-How in Innovationsmethoden und -arbeitsweisen. Agile und nutzerzentrierte Entwicklung steht im Mittelpunkt, ebenso wie eigenverantwortliches und selbstbestimmtes Arbeiten. Auch um das Verständnis und die Akzeptanz des entsprechenden Vorgehens zu unterstützen, helfen Leuchtturmprojekte. Sie veranschaulichen schnell, wie nutzerzentrierte Entwicklung funktioniert und warum sie notwendig ist. Solche Projekte können innerhalb von sechs bis zwölf Monaten umgesetzt werden.
Da viele Stadtwerke zu klein sind, um solche Projekte oder gar einen eigenen Innovationsprozess alleine zu tragen, empfiehlt es sich solche Projekte im Verbund anzugehen. Die Thüga AG, der VKU oder das Trianelzeigen, wie solch eine Herangehensweise die Kräfte und entsprechende Mehrwerte bündelt.
Stadtwerke der Zukunft: Daseinsvorsorge weiterdenken
Stadtwerke können sich dem technologischen und wirtschaftlichen Wandel nicht entziehen. Sie müssen ihre Vision und ihr Selbstverständnis neu definieren. Dazu gehört auch, ihre Ökosysteme neu auszurichten und sich mit nutzerzentrierten Produkten und Dienstleistungen fit, attraktiv und wettbewerbsfähig für die Zukunft zu machen.
Wenn Stadtwerke diesen Weg konsequent einschlagen, werden sie ihre Rolle in der Kommune stärken. Sie können als Problemlöser die Entwicklung ihrer Region maßgeblich mitgestalten und vorantreiben.
Die Erkenntnisse und Empfehlungen in diesem Artikel gelten nicht nur für Unternehmen in der Energiebranche, sondern sind auch übertragbar auf andere Industrien wie die Automobilbranche oder Finanzdienstleister. Auch diese Branchen sind neuen Wettbewerbern ausgesetzt und zur Veränderung gezwungen. Viele befinden sich bereits mitten in diesem Transformationsprozess und es bleibt spannend, welchen Akteuren es gelingt die Chancen des Wandels für sich zu nutzen.
Dieser Artikel wurde in Kooperation mit Mirijam Münch verfasst.
Verfasst von:
Anne Hahn