Transformation

Die Strategie braucht eine neue Strategie

Warum wir unser Strategieverständnis anpassen müssen und wie wir das schaffen.

Barbara Posern
August 22, 2022
Lesezeit

Strategie ist ein großes Wort, umweht von einer Aura der Macht und Bedeutung. Strategie ist (ge)wichtig, wird von hochbezahlten Experten gemacht und das gerne hinter verschlossenen gepolsterten Türen. Wenn alle ein oder zwei Jahre eine Unternehmensstrategie verabschiedet wird, gilt sie als unantastbares Zielsystem und wird nicht hinterfragt – wie eine graue Eminenz, die keinen Widerspruch duldet. 

Doch ist das noch zeitgemäß? Ist die Art und Weise, wie wir über Strategie denken und wie wir Unternehmensstrategie anwenden, noch sinnvoll für die heutige VUCA Welt?

Worauf gründet unser aktuelles Strategieverständnis?

Unser Strategieverständnis entstammt einer Zeit, in der Veränderung und Komplexität bei weitem nicht das Ausmaß erreichten wie heute. Es war die Zeit der Industrieproduktion. Arbeit wurde eindeutig in Prozessen mit klar umrissenen Schritten beschrieben, der Einsatz von Ressourcen war planbar, Zeit und Kosten kalkulierbar. Die Ergebnisse der Prozesse waren vorhersehbar und der Standard – die gleichbleibende Qualität – galt als eines der Kernversprechen der Konsumprodukte, die im Massenmarkt für Wiedererkennbarkeit sorgen sollten.  

Die Sprache dieser Zeit offenbart die Überzeugung, dass Rationalität das Momentum des Erfolges ist. Unternehmen wie Menschen wurden (und werden) wie Maschinen beschrieben. Projekte wurden angekurbelt, man drehte an Stellschrauben, brachte Dinge ins Laufen und Teams zum Rotieren, Menschen fühlten sich wie Rädchen im Getriebe und die Chefs beklagen, dass die Leute nicht spuren.  

Bezeichnenderweise ist das Fließband nicht nur Zentrum der industriellen Wertschöpfung, sondern auch Symbol für die Prinzipien, an denen sich Unternehmen orientierten:

  • Linearität – Die Ereignisse der Vergangenheit wurden linear in die Zukunft fortgeführt, aus A ergab sich logisch B, die Ursachen und Folgen einer Entwicklung waren sichtbar  
  • Langfristigkeit – Veränderungen im Umfeld waren wenig überraschend, Pläne behielten über längere Zeit ihre Gültigkeit und führten zum Erfolg 
  • Eindeutigkeit – Optionen erschienen klar, Entscheidungen konnten einfach getroffen werden, die Frage nach dem entweder-oder konnte schnell beantwortet werden 
  • Rationalität – der Verstand und die Logik galten als Stärke; Gefühle, Emotionen, Soziales hingegen wurden als nicht relevant und als Zeichen von Schwäche gedeutet    
  • Hierarchie – in Prozessen mit kleinen Arbeitsschritten wurden Aufgaben verteilt, die einfach kontrolliert werden konnten, und ein (männlicher) Chef hatte genügend Wissen, um Arbeitsergebnisse sicher bewerten zu können

Wie Krieg und Militär unser Strategieverständnis geprägt haben 

Über all dem wirkte das Prinzip des Wachstums. Der Kapitalismus verlangte nach stetig wachsenden Umsätzen, Gewinnen und Marktanteilen. Märkte wurden erobert, Zielgruppen gewonnen, Wettbewerber übertrumpft oder gar vom Feld gefegt. Wieder ist die Sprache entlarvend und so stehen noch heute die Klassiker der Kriegskunst in den Bücherregalen vieler Manager: 

„Die Kunst des Krieges“, geschrieben von Sun Tsu, „Vom Kriege“, „Strategie denken“ oder „Strategie im 21. Jahrhundert“, alle drei verfasst von Carl von Clausewitz, einem Militärhistoriker. 

So etablierte sich die Strategie als Disziplin der Unternehmensführung, und fortan übernahmen Strategen das langfristige und dazu listige Denken. Stratege bzw. Strategos ist übrigens „die antike Bezeichnung für ein militärisches Amt im griechischen Sprachraum“, die im Deutschen so viel wie Heerführer bedeutet. 

Zum Selbstverständnis eines Strategen gehört die Methodenkenntnis beziehungsweise die Entwicklung eigener Methoden für die Strategiearbeit, die im Wesentlichen darin besteht, einen Zukunftsplan zu erstellen. Beispiele sind:

Markt (seit den 30er Jahren):

  • Ansoff-Matrix  
  • BCG-Matrix
  • Blue Ocean Strategy 
  • Branchenstrukturanalyse / 5 Wettbewerbskräfte  
  • Konkurrenzanalyse 
  • Positioning 
  • Profit from the core
  • Ressourcenorientierter Ansatz (Kernkompetenzen) 
  • Step / Pest / Pestel  
  • SWOT-Analyse 
  • Wargaming  
  • … 

Marke (ab den 80er Jahren): 

  • Archetypen-Analyse  
  • Brand Identity 
  • Brand Sense
  • Markenmodelle (basierend auf Werten, Persönlichkeit, etc.) 
  • Markendreiklang 
  • Markentreiberanalyse 
  • Sales Funnel 
  • … 

Mensch (ab Mitte der 90er Jahre): 

  • Zielgruppensegmentierung 
  • Sinus- und Sigma-Milieus 
  • Customer Journey
  • Empathy Maps 
  • Personas 
  • Limbic Map 
  • Stakeholder Analyse 
  • … 

Die zeitliche Entwicklung, die in dieser Liste deutlich wird, zeigt, wie sich strategische Arbeit inhaltlich entwickelt hat. Sie ist umfassender geworden und hat den Menschen zunehmend in den Blick genommen. Momentan wird diese Liste ergänzt mit Methoden und Techniken, die die Mitarbeitenden miteinbeziehen.

Methoden und Techniken bieten wertvolle Unterstützung, solange man sich bewusst ist, dass sie die Wirklichkeit niemals vollständig abbilden und Komplexität immer reduzieren, so dass sich die „Wahrheit“ in einer zweidimensionalen Abbildung darstellen lässt. Auch sollte man im Blick haben, welches Welt- bzw. Unternehmens- und Menschenbild ausgewählten Methoden und Techniken zu Grunde liegt – und hier zeigt sich das Problem, denn bei den meisten der oben genannten Methoden werden die Prinzipien Eindeutigkeit, Linearität, Wettbewerb und Wachstum reflektiert.

Wie lösen wir uns von diesem veralteten Verständnis?

Diese Prinzipien haben in der Vergangenheit zum Erfolg geführt, doch unsere Welt ist heute eine andere als noch vor 50 oder gar 100 Jahren. Wir haben die Industriegesellschaft in eine Wissens- und Netzwerkgesellschaft transformiert. Durch die globale Vernetzung und den enormen Wissenszuwachs leben wir in einer Komplexität, in der kaum etwas sicher vorhersehbar ist – nie war Zukunft so ungewiss wie heute, und so funktionieren die alten Prinzipien nur selten oder eingeschränkt.

Moderne Strategiearbeit braucht eine neue Haltung

Im Kern geht es um nichts Geringeres als um eine neue Haltung, die drei Aspekte miteinander verbindet: Die Erhöhung der Lern- und Anpassungsfähigkeit von Organisationen – die Schaffung von Arbeitsumfeldern, die Menschen dabei unterstützt, ihre Potenziale zu entfalten – ein unternehmerisches Handeln, das die Natur schützt und die Lebensgrundlage unserer Spezies Mensch sichert.  

Ansätze wie Design Thinking, Lean Start-up, Scrum und das gesamte Gedankengebäude der Agilität reflektieren diese Haltung. Sie kann dann helfen, eine schöne neue Welt zu gestalten, wenn das Alte bewusst losgelassen wird. Doch das Entlernen alter Denk- und Verhaltensmuster wird leider zu oft vergessen: Die Gleichzeitigkeit von Alt und Neu verschlimmert die Arbeitsbedingungen für die Menschen, was häufig zu einer Rückbesinnung auf die alten vertrauten Muster führt. 

Was wir momentan deutlich beobachten können ist, dass andere Prinzipien zunehmend in den Fokus rücken und das Agieren von Organisationen prägen.

Eine Gegenüberstellung von alt und neu: 

  • Abgrenzung und Integration – Offenheit und Transparenz im Umgang mit Wissen  
  • Wettbewerb und Kooperation – Gemeinsames Agieren zur Entfaltung von Potenzialen  
  • Linearität und Komplexität – Denken in Kreisläufen und Gleichzeitigkeiten
  • Eindeutigkeit und Widersprüche – Das Zulassen von sowohl-als-auch-Lösungen 
  • Langfristigkeit und Achtsamkeit – Handeln und Entscheiden aus der Situation heraus  
  • Wachstum und Nachhaltigkeit – Agieren im Einklang mit Mensch und Natur 
  • Rationalität und Kopf-Herz-Hand – Ganzheitliches Denken und Handeln 
  • Hierarchie und Geteilte Führung – Gemeinsame Verantwortung
  • Kontrolle und Vertrauen – Freiheit für mehr Motivation

Dieses Neue entstammt der digitalen Welt. Digitale Technologie verändert nicht nur das Gesellschafts- und Wirtschaftssystem. Auch die Art und Weise, wie Software und andere digitale Produkte entstehen, hat mehr und mehr Einfluss darauf, wie wir generell denken und handeln. Unterstützt wird diese Entwicklung von den jüngeren Generationen Y und Z, die das alte Denken in Frage stellen und neue Rahmenbedingungen schaffen.  

Ein Aspekt ist im Kontext der Strategie von besonderer Relevanz:

Neues entsteht iterativ und im steten Austausch mit den Marktumfeldern und Nutzer*innen. Das Ziel ist nicht das perfekte und vollständig fertige Produkt, sondern zunächst dessen kleinstmögliche Version, die unter realen Bedingungen im Markt weiterentwickelt wird. In einem permanenten Prozess wird das Produkt optimiert und ergänzt – ein Status Quo wird nie erreicht, die fortlaufende Entwicklung ist das neue Normal. Alles fließt. 

Und die Strategie? Was wird aus den großen Zukunftsplänen, wenn alles fließt, wenn alles in permanenter Entwicklung ist, wenn Teams Schritt für Schritt vorgehen und nach jedem Sprint den bisherigen Plan hinterfragen und möglicherweise auf den Kopf stellen – und das zu Recht?

Wie Identität die moderne Strategiearbeit prägt

Wie planen wir unser Handeln? Wie entwickeln wir uns weiter? Wie sichern wir das Überleben von Organisationen? Auf welcher Grundlage treffen wir Entscheidungen? Woran orientieren wir uns, und wie geben wir anderen Orientierung? 

Die Antwort liegt im Wort „Identität“. 

Wer sind wir, warum sind wir hier, und was ist unser Purpose?

Purpose ist nicht zufällig eines der aktuell gefragtesten Themen, und die Anziehungskraft des Begriffs spiegelt nicht nur die Sehnsucht der jüngeren Generationen nach sinnvoller Arbeit und die Notwendigkeit, Unternehmen in die Verantwortung zu bringen, nachhaltig zu agieren. Purpose als höheres Ziel einer Organisation, das über das rein Monetäre hinausgeht, formuliert den Auftrag, den eine Organisation für eine Gesellschaft erfüllt. Ein Purpose hat damit eine langfristige Gültigkeit, da sich gesellschaftliche Bedürfnisse nur langsam verändern. Das bedeutet, dass ein Purpose eine langfristige Orientierung für eine Organisation bieten kann. Eine Ableitung von Vision und Mission und eine Übersetzung in Werte, die wiederum in konkreten Arbeitsprinzipien und Entscheidungskriterien übertragen werden, bieten dabei wertvolle Unterstützung. Dann sind alle Grundlagen geschaffen, um die entscheidende Leitfrage zu beantworten: 

Mit einem Purpose gegen die Angst

Welche neuen Möglichkeiten sehen wir in den aktuellen Entwicklungen, unserem Purpose noch näher zu kommen, unsere Werte konsequenter umzusetzen, unser Potenzial zu entfalten? 

Diese Frage reflektiert die neue Haltung, und ihre Beantwortung gibt uns die Möglichkeit, nicht mehr von Angst getrieben zu sein – der Angst, den Anschluss zu verpassen, einem Wettbewerber das Feld zu überlassen, auf das falsche Pferd zu setzen, etc. Es ist gut, diese negative Form der Außenorientierung aufzugeben, denn Angst erzeugt Stress und Stress verengt unser Blickfeld, verhindert dadurch eine kreative und konstruktive Auseinandersetzung mit der Situation und somit eine Lösungsfindung. Stattdessen treten wir den Rückzug an in alte Muster und verstärken damit das Alte, also die problematische Situation. Der positive Blick in die Außenwelt hingegen, verbunden mit der Fragestellung, welche neuen Möglichkeiten der Entfaltung des Purpose darin liegen mögen, bewirkt eine nachhaltige Entwicklung. 

Es geht also um eine von innen motivierte Vorgehensweise, die nach Möglichkeiten der Entfaltung sucht und dabei bewusst aus der Situation heraus agiert und die nahe Zukunft in den Blick nimmt, wie es beispielsweise Otto Scharmer vorschlägt. Was zeigt sich am Horizont und was können wir jetzt tun, was wollen wir jetzt ausprobieren – und was lernen wir aus diesem Experiment? 

Das bedeutet ein Erkunden, ein Entdecken wollen, offen und neugierig sein, spielerisch an eine Aufgabe herangehen und das Ergebnis noch nicht zu kennen, und ja: es bedeutet auch, sich darüber zu freuen, wenn sich zeigt, was nicht funktioniert, weil wir dann etwas gelernt haben und den nächsten Versuch bereits mit mehr Erkenntnis fortsetzen können.

Dabei werden wir uns nicht nur fragen, was unserem Purpose dient. Wir werden auch wissen wollen, was zu uns passt, zu uns als Organisation, zu unserer Geschichte – wer wir sein wollen und wie wir unsere Geschichte im Sinne unserer Identität fortschreiben können. Das bedeutet nicht, mehr vom Gleichen zu tun, sondern die Identität zu aktualisieren – Neues zu tun, das zu ihr passt, und das Neue so zu gestalten, dass ihre DNA zum Ausdruck kommt – in zeitgemäßer Interpretation. Die Organisation nutzt das Neue für die eigene Weiterentwicklung und bliebt doch immer als sie selbst erkennbar.

Also: Die strategische Arbeit, die zum Ziel hatte, aus der Vergangenheit eine Zukunft abzuleiten und einen sicheren Weg dorthin zu bauen, muss in Zukunft auf neuen Prinzipien des Denkens und Handelns aufgebaut werden. Aus der Kunst des Krieges wird die Kunst der Entfaltung.  

Strategische Arbeit konzentriert sich in Zukunft darauf, den Auftrag, den eine Organisation für die Gesellschaft erfüllt, im Blick zu halten, Veränderungen in der Umwelt wahrzunehmen und beide in eine konstruktive Beziehung zueinander zu bringen. Wenn sich Bedürfnisse verändern oder sich neue Möglichkeiten zeigen, dann entsteht Handlungsbedarf. Aus der Situation heraus beginnt das Tun, das Ausprobieren initiiert einen Lernprozess, der niemals endet. Ziele, abgeleitet aus Vision und Mission und die wertebasierten Prinzipien des Handelns sind die Orientierungspunkte auf dieser Reise ins Ungewisse. Und ein letztes: Eindeutig richtige Ergebnisse kann es in dieser Wirklichkeit nicht geben. Viele Wege führen nach Rom – und manchmal dürfen eben mehrere Wege parallel existieren. Sowohl-als-auch ist kein Dilemma, sondern eine von vielen Lösungen für eine Zukunft mit neuen Möglichkeiten.

Habt auch ihr Fragen zur Strategiearbeit? Dann freuen wir uns auf eure Mail: hello@zero360.de 

Verfasst von:

Barbara Posern

Barbara begleitet Organisationen, Teams und Menschen in Transformationsprozessen und verbindet dabei ihre Expertise als Designerin mit ihrer Erfahrung als Coach und strategische Beraterin. Ihr Lieblingsthema: Kunden zu befähigen, neue Lösungen zu entwickeln und auch umzusetzen – ko-kreativ, agil und nutzerzentriert.

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