Wie Führungskräfte mit eigenen Unsicherheiten umgehen können
Führung ist Bauchsache
Ja, Führungspersonen müssen in der Lage sein, systemischen Unsicherheiten mit passenden Maßnahmen zu begegnen. Ansätze wie agile Strategieentwicklung und Foresight-Methodiken bieten hier eine absolut wertvolle Grundlage. Doch wie bereits festgestellt: All diese Ansätze laufen ins Leere, wenn Führungspersonen nicht in der Lage sind, ihre eigene (emotionale) Unsicherheit ausreichend zu reflektieren. Nur mit einer solchen Reflexion gelingt es, der eigenen Intuition zu vertrauen, wenn diese gefragt ist. Denn Führung ist nicht nur Kopf-, sondern auch Bauchsache. Insbesondere heutzutage. Bei mir stellte sich beispielsweise Anfang der Corona-Pandemie die Frage: Sollte ich meine Mitarbeitenden in Kurzarbeit schicken oder eine „Jetzt-erst-recht“-Mentalität an den Tag legen und eine „All-hands-on-deck“-Strategie wählen? Ich entschied mich für Letzteres – und bin bis heute froh darüber. Nach Gesprächen mit der Steuerberatung, Kolleg*innen und anderen Geschäftsführer*innen gab es viele rationale Argumente dagegen. Letztendlich habe ich aber aus unternehmerischer Perspektive gehandelt und bin dabei meinem Bauchgefühl gefolgt. Ohne entsprechende Selbstreflexion hätte ich diesen Schritt nicht gewagt.
Wie funktioniert er also, der Umgang mit Unsicherheit, in Zeiten wie den heutigen?
Grob gesagt kann man den Prozess in zwei elementare Schritte aufteilen:
- Die eigenen Unsicherheiten adressieren
- Die Unsicherheiten anderer adressieren
Bei diesen zwei Schritten ist insbesondere eines wichtig: die Reihenfolge. Denn wer seine eigenen Zweifel nicht anerkennt, kann den Zweifeln der Mitarbeitenden nicht erfolgreich entgegentreten. Wer sich seine eigenen Emotionen nicht eingesteht, kann in turbulenten Zeiten nicht gut führen.
Die eigene Unsicherheit anerkennen
Der erste Schritt zum Umgang mit Unsicherheit ist also nicht, einen Maßnahmenplan aufzustellen. Der erste Schritt ist gewissermaßen ein „Schritt zurück“. Er besteht aus radikaler Ehrlichkeit mit sich selbst. Man muss anerkennen, dass die Situation auch in einem selbst Zweifel und Ängste auslöst, und sich mehr als Führungsperson und weniger als Führungskraft sehen. Man darf sich die eigene Menschlichkeit eingestehen, anstatt bloße Entscheidungsstärke zu erwarten.
In der Beobachtung meines eigenen Verhaltens und der Aussagen anderer Führungspersonen wurde mir klar, dass dieses Eingeständnis keine Selbstverständlichkeit ist: Oftmals ist die beliebteste Reaktion auf empfundene Unsicherheit Verleugnung. Wir wollen nicht wahrhaben, dass uns gewisse Situationen mehr herausfordern, als wir erwartet hätten. Wir meinen zu wissen, was nun von uns als Führungskraft erwartet würde: Stärke und Entschlossenheit, um anderen die Ängste zu nehmen. Doch das führt oftmals zu einem Aktionismus, der Unsicherheiten nur noch schürt.
Ich sage nicht, dass das Eingeständnis und die Reflexion der eigenen Emotionen leicht sind. Im Gegenteil. Auch mich kostet es Überwindung, in turbulenten Zeiten zurückzutreten und meine Gedanken zu ordnen. Es ist ein ständiger Kampf mit der eigenen Erwartung, jederzeit handlungs- und sprechfähig zu sein. Doch ich weiß, dass ich nur nach einer entsprechenden Reflexion dieser Erwartung gerecht werden kann.
Bevor wir also die Rolle einnehmen können, die die Situation von uns verlangt, geht es um eine Inventur der eigenen Emotionen und Bedürfnisse, aber auch der eigenen Kenntnisse und ihrer Grenzen. Was genau macht mir Angst an der jeweiligen unsicheren Situation? Welche Muster lege ich deswegen an den Tag? Welche Rolle nehme ich ein und welche Rolle würde ich gerne einnehmen? Wo habe ich blinde Flecken?
Um diese und weitere Fragen zu beantworten, eignen sich einige Tools als Orientierung. Gewöhnt man sich die Verwendung solcher Tools an, fällt es leichter, in Extremsituationen auf sie zurückzugreifen. Ich selbst bin vor einigen Jahren während meiner Ausbildung zum systemischen Coach am artop-Institut in Berlin mit dem Modell des Inneren Teams in Berührung gekommen. Der renommierte Kommunikationspsychologe Friedemann Schulz von Thun sagt in einem Satz: Wer sich selbst versteht, kommuniziert besser. Und genau darum geht es bei diesem Modell. Lernen, sich besser zu verstehen.
Eine Führungskraft muss „mit Menschen können“, muss wissen, wie ihnen zumute ist und was ihnen zugemutet werden kann und muss, sagt Schulz von Thun.
Das Modell des Inneren Teams schafft für mich eine Grundlage für den Weg zu mehr persönlicher Klarheit. Ich habe mich zwar noch nicht für konkrete Maßnahmen entschieden, aber ich weiß, welche Eckpfeiler es geben, mit welchem Widerstand ich rechnen und wie ich mit meinen eigenen Zweifeln umgehen sollte. Gewissermaßen habe ich also meine eigene Unsicherheit adressiert, um nun anderen ihre Unsicherheiten nehmen zu können. Denn ich weiß: Nur in dieser Reihenfolge funktioniert es.
Hier findest du Teil 1 und Teil 3 der Artikelserie.
Hast du Lust, dich über die neue Menschlichkeit in Führung auszutauschen und Wege zu finden, wie du mit mehr Klarheit und Authentizität führen kannst? Dann kontaktiere uns: rafat@zero360.de
Verfasst von:
Dr. Shamim Rafat