Leadership

Alles bleibt anders! Leadership in einer Welt voller Widersprüche

Wie schaffen Führungskräfte einen neuen Rahmen für Kultur und Innovation?

Barbara Posern
Oktober 24, 2023
6 min Lesezeit

Alles bleibt anders. Das ist der Titel der Veranstaltungsreihe, die wir – zero360 – gemeinsam mit unserem Partner Vitra ins Leben gerufen haben. Während der inhaltlichen Konzeption stand das Thema „hybrides Arbeiten“ im Zentrum unserer Überlegungen. Seit die Corona-Pandemie die Arbeitswelt in ein kollektives Experiment geschubst hat, erleben wir in vielen Situationen ein „sowohl als auch“ – im Unternehmen und zu Hause arbeiten, hybride Meetings mit physisch und digital Anwesenden. Doch nicht nur das! Wir haben im Rahmen der Zusammenarbeit mit unseren Kund:innen beobachtet, dass es bei dieser einfachen Form des Hybriden nicht geblieben ist. Das hat uns neugierig gemacht und so formulierten wir die Hypothese, dass das Prinzip des „sowohl als auch“ auf vielen Ebenen in Unternehmen wirksam wird und dass in Folge davon insbesondere Führungskräfte häufiger mit Widersprüchen konfrontiert sein werden.  

Diese Hypothese haben wir im Rahmen der Veranstaltungsreihe nicht nur geprüft, sondern auch herausgefunden, was die spannungsreichsten Widersprüche in den Unternehmen sind, wie Führungskräfte damit umgehen und wie sich die Rolle von Führungskräften dadurch verändert. 

Wir konnten Truma, weltweit agierender Hersteller von Komfortprodukten für Wohnwagen und Reisemobile, und Ottobock, ein internationales Medizintechnikunternehmen, als Gastgeber für unsere Events gewinnen. Zwei tolle Unternehmen, die nicht nur ihre Räume für unsere Workshops geöffnet, sondern auch ihre innovativen Arbeitswelten gezeigt haben.  

Hier stellen wir die zentralen Ergebnisse unserer Workshops vor.  

Führung? Gefragter denn je! 

Als eigentliche Herausforderung für Führungskräfte zeigt sich tatsächlich der kluge Umgang mit einer Vielzahl von Widersprüchen. Am häufigsten genannt werden folgende Gegensatzpaare: Arbeiten zu Hause – Arbeiten im Unternehmensgebäude. Selbstorganisation – Hierarchie. Sicherheit – Zukunft. Freiheit – Vorgaben. Vertrauen – Kontrolle. Direktive Führung – Servant Leadership. Die Herausforderung liegt für die Führungskräfte darin, dass es kaum noch eindeutige Lösung gibt. Das Prinzip „entweder-oder“ greift nicht mehr. Stattdessen heißt es „sowohl-als-auch“. Warum ist das so?  

  • Unternehmen segeln in der Ungewissheit. Es fehlen Informationen, um Lösungsmöglichkeiten objektiv zu bewerten, vor allem wird es immer schwieriger vorherzusehen, welche Szenarien eintreffen werden. Entscheidungen müssen also trotz Black Box getroffen werden und dabei mehrere mögliche Szenarien reflektieren. 
  • Probleme sind komplexer denn je. Die Auswirkungen einer Entscheidung können kaum abgeschätzt werden – mehrere Optionen sind gleich wahrscheinlich und relevant.  
  • An den Problemen in einer Organisation sind unterschiedlichste Personengruppen beteiligt und betroffen. Diese haben unterschiedliche Bedürfnisse, die unterschiedliche Antworten erfordern und sich dann oft konträr gegenüberstehen (Beispiele siehe oben). Kompromisse sind immer seltener tragbar. 

Jetzt könnte man einwenden: Das ist ja nichts Neues! Und ja, Widersprüche gab es in Organisationen schon immer, doch was in den letzten Jahren tatsächlich hinzugekommen ist:  

  • Das Ausmaß und die Dynamik der Veränderung erhöhen die Notwendigkeit Entscheidungen zu treffen – nicht nur, weil häufiger und mehr Themen zu entscheiden sind. Wenn sich permanent etwas ändert, müssen auch bisher gefundene Lösungen immer wieder neu betrachtet werden. Was gestern richtig war, ist heute möglicherweise suboptimal. Das heißt auch: Entscheidungen sind nur temporär gültig.  
  • Die Pandemie hat die Aufmerksamkeit stärker auf die Mitarbeitenden und deren Bedürfnisse gelenkt. Dieses Bewusstsein gepaart mit dem Fachkräftemangel und der Haltung jüngerer Generationen führt zu einer Verschiebung in der Beziehung von Organisationen zu ihren Mitgliedern. Mitarbeitende stellen selbstbewusst Forderungen und die meisten Organisationen können es sich nicht leisten, diese zu ignorieren.  

Führung muss in Folge selbst hybrid agieren, ein „sowohl-als-auch“ anbieten, mehrere Lösungen gleichzeitig ermöglichen und diese regelmäßig auf den Prüfstand stellen, anpassen oder sogar vollkommen neu entwickeln. Um das zu meistern, brauchen Führungskräfte (und Organisationen) drei Dinge: Orientierung, Lernen und Kommunikation. 

  • Orientierung, um Lösungsmöglichkeiten bewerten und priorisieren zu können.  
     
    Ein Purpose unterstützt Entscheidungen. Man könnte sogar schreiben: Ein Purpose entscheidet, denn aus dem Zweck eines Unternehmens lassen sich konkrete Ziele und Kriterien für Erfolg und eben Entscheidungen ableiten. (Ich bin übrigens der Meinung, dass ein gut formulierter Purpose nach wie vor eine wichtige Sache ist – einige behaupten aktuell das Gegenteil, doch das ist eine andere Diskussion.) Die Frage ist nur, wie man einen solchen Purpose für den Alltag nutzbar macht. Dazu lies gerne unser neues Whitepaper.  
  • Lernen bzw. die Fähigkeit zum Lernen, um mit immer neuen Situationen umzugehen.  
     
    Agilität ist hier das Stichwort. Sie hat zum Ziel, die Anpassungsfähigkeit von Organisationen zu erhöhen und das bedeutet nichts anderes als zu lernen, sich schnell und konstruktiv auf das Neue einzustellen, und zwar aktiv gestaltend und nicht passiv reagierend. Es geht um eine neue Haltung: Veränderung nicht als Übergangsphase in ein neues Normal zu betrachten, sondern als das Normale selbst. Plus: Veränderung nicht ängstlich zu begegnen und den Verlust von was auch immer zu befürchten, sondern das Neue generell als Chance zu betrachten, der Welt noch bessere Antworten geben zu können als bisher. 
  • Kommunikation, um Transparenz und damit Vertrauen zu schaffen. 
     
    Mehr und mehr entscheidet Kommunikation über den Erfolg von Entscheidungen. Führungskräfte haben die Aufgabe, Entscheidungen für die Mitarbeitenden nachvollziehbar zu machen, insbesondere dann, wenn frühere Entscheidungen revidiert werden. Mit guter Kommunikation kann es gelingen, Mitarbeitende zu überzeugen, ihr Vertrauen in die Führung zu wahren und zu stärken – und keine falschen Erwartungen zu wecken. 

Unser Fazit lautet ganz klar: Führung und echte Führungsarbeit sind gefragter denn je, und zwar im Sinne von Leadership. Führung führt die Organisation und managed keine Projekte! Führungsarbeit ist Strategiearbeit und erfordert deren Übersetzung ins tägliche Handeln, begleitet von Kommunikation, Kommunikation und Kommunikation.  

Last but not least, Führung hat zwei primäre Handlungsfelder, ein internes und ein externes: Die Kultur der Organisation und die Angebote der Organisation. Und dementsprechend auch insbesondere einen Einfluss auf Identifikation und Innovation.  


Identifikation mit der Organisation? Vom Wir zum Ich! 

Die Identifikation der Mitarbeitenden mit ihrem Arbeitgeber ist deutlich gesunken. Das Gefühl der Verbundenheit mit einem Team ist zurück gegangen und viele Führungskräfte beklagen einen Mangel an Verbindlichkeit sowie geringe Loyalität bei ihren Teammitgliedern. In diesem Kontext gibt es neue Phänomene, wie z.B. Quiet Quitting, Rage Applying, Quiet Firing oder die viel zitierte Great Resignation. Wir alle haben unsere Beziehung zur Arbeit hinterfragt und nicht wenige haben sie in der Konsequenz komplett auf den Kopf gestellt. Aus Sicht jedes und jeder Einzelnen ist das ganz wunderbar, doch für Organisationen ist das Ergebnis durchaus herausfordernd. Der Social Glue hat sich aufgelöst und das Wir-Gefühl ist dem Eindruck einer Fragmentierung gewichen. Jeder wurschtelt für sich. Aus dem Wir sind viele Ichs geworden.  

Soweit die Fakten. Und jetzt? 

Wir versus Ich – auch hier offenbart sich ein Gegensatzpaar. So scheint der Auftrag für die nächste Zeit ganz klar zu sein: Organisationen brauchen wieder einen Shift in Richtung Wir. Es geht darum, die Zusammenarbeit zu verbessern, die Identifikation mit dem Team sowie der gesamten Organisation zu erhöhen. Kulturarbeit also. 

Wir stehen erst am Anfang einer grundlegenden Veränderung. Coole Events, gefüllte Obstkörbe und ein bisschen New Work werden die Kultur einer Organisation nur bedingt in die richtige Richtung entwickeln. Transparente interne Kommunikation, Möglichkeit zur Partizipation, verteilte Verantwortung, geteilte Führung, moderne Büroarchitektur, Feedback- und Lernkultur, angemessene Bezahlung und die Möglichkeit zur beruflichen sowie persönlichen Entwicklung. All das sind weitere Parameter in der Gleichung, an deren Ende ein neues Wir-Gefühl steht. Ein gelebter Purpose kann auch hier helfen und vielleicht Kern der Lösung sein. Doch wie genau kann es gelingen, eine große Idee auf die Ebene der täglichen Arbeit zu übersetzen? Identifikation entsteht genau hier. Sie kann dann wachsen, wenn Menschen den Wert ihrer Arbeit sehen, wenn sie verstehen, dass ihre Arbeit einen Mehrwert für das Team und die gesamte Organisation hat. Selbstwirksamkeit bedeutet Zufriedenheit. Und das ist eine kraftvolle Bindung.  


Innovation braucht einen Rahmen, der Spielraum lässt 

Aktuell können wir beobachten, dass wir die Panik-Zone der letzten Jahre wieder verlassen haben. Wir können wieder klarer denken und erkennen, dass wir mehr denn je Innovation brauchen – auf allen Ebenen, intern in den Organisationen und extern im Markt, in der Welt. Nachhaltigkeit steht auf all unseren Agenden und dafür brauchen wir neue Antworten auf die Frage, wie wir einen Beitrag dazu leisten können, unser Leben in dieser Welt vielleicht doch noch zu retten.  

Innovation braucht Zeit und Raum. Und etwas total Unpopuläres: Muße. Der Versuch der letzten Jahre, jedes noch so große Thema in einen Design Sprint zu pressen hat der Innovationskultur massiv geschadet. Innovation braucht inspirierende Narrative, eine gute Recherche, die Einbindung vieler Perspektiven, und vor allem die Möglichkeit, eine wirklich gute Lösung zu finden. Steve Jobs hat einmal gesagt, dass es drei Formen der Problemlösung gibt.

Die erste Art sei einfach – zu einfach, um der Komplexität eines Problems gerecht zu werden. Die zweite Art der Lösung sei komplex – so komplex wie das Problem selbst, und damit für die Nutzer zu kompliziert und damit nicht nutzbar.

Die meisten Projekte schaffen es maximal bis zu dieser zweiten Stufe und nur die wenigsten gelangen zur dritten: Lösungen, die ein Problem auf seinen Kern reduzieren und eine Lösung bieten, die an der Schnittstelle zum Nutzer maximal einfach ist, doch hinter der Bühne die Komplexität des Problems organisiert.

Lösungen der dritten Art zu finden, erfordert Zeit, dazu die innere Größe, die eigenen Ideen immer wieder zu hinterfragen und noch bessere Lösungen zu entwickeln, die wirklich bis zum Kern eines Themas vordringen. Die vielen Ideen, die wir im Rausch des Design Thinking Hypes auf Post Its gesammelt haben, haben das nur selten geschafft. Viel zu schnell entstand das Gefühl, wow, was für eine geile Idee, das ist es. Wenn ich eines als Designerin gelernt habe, ist es das: Die ersten Ideen sind in der Regel nur eine Zusammenfassung der Lösungen, die wir bereits kennen, maximal gehen wir eine Evolutionsstufe weiter. Es braucht viel Arbeit und eine Menge Geduld sowie Frustrationstoleranz, um immer weiter und weiter zu forschen, bis es tatsächlich Klick macht.  

Und genau das brauchen wir jetzt, Lösungen, die wirklich etwas bewegen, und damit das klappt, benötigen wir eine kluge Organisation der Projekte. Einen Rahmen, der den Innovationsprozess definiert und dabei genügend Freiraum lässt für Kreativität. Auch hier suchen wir also eine Balance zwischen zwei Extremen, zwischen Regeln und Freiheit. Regeln, die den Teams eine Leitplanke geben, an der sie sich orientieren können, die die Arbeit des Organisierens erleichtern und damit Kapazitäten schaffen, so dass fokussiertes Arbeiten möglich wird. Und ja, es braucht eine Strategie, einen Purpose, um Innovationsprojekte klug auszurichten, die richtigen Probleme zu identifizieren, Zielbilder und Ziele zu formulieren, inspirierende Fragen zu stellen, und Ideen zu bewerten und zu priorisieren.  

Fazit: Ja. Alles bleibt anders. Alles fließt, wie schon Heraklit vor 2.500 Jahren sagte. Die permanente Veränderung war schon immer Teil unserer Realität und die Aufgabe von Führung ist es mehr denn je, auch Organisationen ins Fließen zu bringen. Die vielen Widersprüche, die dabei auftauchen, gilt es in Balance zu halten. Das erfordert ein permanentes Aushandeln – unsere strategische Arbeit verändert sich also auch, wird ebenso fluide und adaptiv, um den zentralen Themen Kultur und Innovation einen Rahmen zu geben, der die Bewegungen in der Umwelt einer Organisation angemessen reflektiert.  


Verfasst von:

Barbara Posern

Barbara begleitet Organisationen, Teams und Menschen in Transformationsprozessen und verbindet dabei ihre Expertise als Designerin mit ihrer Erfahrung als Coach und strategische Beraterin. Ihr Lieblingsthema: Kunden zu befähigen, neue Lösungen zu entwickeln und auch umzusetzen – ko-kreativ, agil und nutzerzentriert.

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