Leadership

Agilitätslügen, Führungsfragen und der eigene Grabstein

Eine agile Struktur braucht eine agile Kultur – doch zu viele Firmen erkennen das nicht

Marco Springer
Juni 14, 2022
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Mit ihrer Firma „Future Work Consulting“ unterstützt Dominique Stroh als selbstständige Beraterin Unternehmen und Führungskräfte dabei, agile Arbeitsmethoden einzuführen, auszuführen und selbstlernend weiterzuentwickeln. Sie ist Autorin der Bücher „Agil geht anders: Eine Toolbox für den Führungsalltag“ sowie „Mythos Agilität: Wie New Work wirklich gelingt“. Demnächst veröffentlicht sie mit anderen renommierten Autor:innen und dem Haufe Verlag das Buch „Was braucht Führung heute wirklich?“.

Hallo, liebe Dominique. Schön, dass du dir heute für uns Zeit genommen hast. Erzähl uns doch erstmal etwas über dich. Du hast schon während deines Studiums als Führungskraft gearbeitet. Haben diese Erfahrungen dich geprägt? 

Ja, das haben sie. Ich war schon mit 23 Jahren Teamleiterin für 15 Kolleg:innen und ich war eine total schlechte Chefin. Ich habe klassische Führungsfehler gemacht: falsche Erwartungen gehegt, viel Druck ausgeübt und zu stark die Kennzahlen und KPIs in den Vordergrund gestellt.

Ich war eine total schlechte Chefin. 

Mein Team hat dann eine Intervention eingeleitet und das Gespräch mit mir gesucht. Sie erklärten mir, dass sie mich privat sehr schätzten, doch dass mein Führungsstil ihnen zu herrisch sei. Daraufhin habe ich einzelne Feedbackgespräche eingeführt, bei denen die Teammitglieder mir regelmäßig mitteilen konnten, was sie im Detail störte. Ich habe an mir gearbeitet und gemerkt, dass mein Team in der Folge sehr erfolgreich wurde. 

Dadurch wuchs in mir dann der Gedanke, dass ich die Führungswelt von morgen verändern möchte, denn Führen will gelernt sein. Ich habe meinen Job gekündigt, bin in die Start-up-Szene eingestiegen und habe mich über Themen wie Design Thinking, Scrum und Agilität immer mehr mit ganzheitlichen New-Work-Prozessen beschäftigt. Schließlich habe ich mich in diesem Bereich selbstständig gemacht und bin inzwischen mit dem Schwerpunkt agile Personal- und Organisationsentwicklung unterwegs.

Das erste Kapitel deines neuen Buches lautet „Die Agilitäts-Lüge.“ Kannst du näher erläutern, was sich dahinter verbirgt? 

In Deutschland haben sich viele Unternehmen dazu entschieden, ihre Organisationsstruktur agiler zu gestalten. Künftig wird es jetzt Chapter, Kreise und Netzwerk-Organisationen geben, sprich: zahlreiche neue Organigramme. Die einzelnen Teams sollen dadurch mehr Entscheidungsstärke bekommen und Führungskräfte eher als Coach auftreten. Letztere sollen mehr dienen und weniger führen. Man sagt dazu auch „Servant Leadership“.
Der Grundgedanke ist richtig, doch bei der Einführung dieser strukturellen Agilität wird die kulturelle Agilität weitgehend außer Acht gelassen. Denn das Anlernen dieser neuen Art der Führung muss in den Arbeitsalltag integriert werden. Einige Beratungsunternehmen bieten hierfür einzelne Drei-Tages-Seminare an, doch das ist ungenügend. Erst durch kontinuierliche und dauerhafte Weiterbildungsangebote werden Mitarbeiter:innen in den neuen Strukturen sozialisiert und befähigt. Nur so kann strukturelle Agilität auch mit kultureller Agilität gefüllt werden. 

Organisationsentwicklung ist niemals abgeschlossen, sondern immer inkrementell: Unternehmen sollten sich mittels Retrospektiven immer wieder selbst hinterfragen und auch neu gestalten. Sie müssen den „Change“-Gedanken abstreifen und dürfen Transformationsprozesse nicht länger als „abgeschlossen“ behandeln, sondern müssen den Weg hin zur Agilität als stetige Entwicklung begreifen. 

Die Organisationsforscher Chris Argyris und Donald A. Schön skizzieren in ihrem Buch „Die lernende Organisation“ ein dazu passendes theoretisches Modell.

Chris Argyris und Donald A. Schön: „Die lernende Organisation“ 

Einige Unternehmen wenden dieses schon an. Viele stoßen nur einmal eine agile Struktur an, leben die kulturelle Agilität jedoch nicht. Und genau da liegt die Agilitätslüge.

Wie überzeugst du Unternehmen von der Bedeutung dieser kulturellen Agilität?

Von der Beraterlegende Peter Drucker stammt die Aussage „Culture eats strategy for breakfast“. In den nächsten zehn Jahren werden wir sehen, dass viel Wahrheit darin steckt und welche Unternehmen dank kultureller Agilität Talente anziehen sowie innovativ und produktiv sein werden. 

Viele Studien belegen schon jetzt, dass die Produktivität von Mitarbeiter:innen davon abhängt, wie wirksam sich diese fühlen, wie viel Sinn sie in der Arbeit sehen und ob auch die Rahmenbedingungen dafür stimmen. Da spielen dann ganz klassische Faktoren wie etwa die Beziehung zu Führungskräften, aber auch monetäre Aspekte eine große Rolle. Wenn diese nicht mit den eigenen Vorstellungen übereinstimmen, dann führt das häufig dazu, dass die Menschen das Unternehmen verlassen. 

Der Gallup Engagement Index misst regelmäßig, wie engagiert Mitarbeiter:innen in ihrem Unternehmen sind. Im Jahr 2021 war die Wechselbereitschaft laut Index so hoch und gleichzeitig die emotionale Bindung zu Unternehmen so niedrig wie noch nie. Das sollte ein Alarmsignal für die freie Wirtschaft sein. In den Vereinigten Staaten wird bereits von einer „Great Resignation“ gesprochen, bei welcher mehr und mehr Arbeitnehmer:innen ihre Jobs kündigen. Noch können sich Unternehmen hierzulande glücklich schätzen, dass so viele deutsche Arbeitnehmer:innen einen festen Arbeitsplatz in diesen unsicheren Zeiten schätzen und deshalb noch eher daran festhalten. Doch die nachkommende Generation, die derzeit Anfang 20 ist, pflegt mit großer Gewissheit eine andere Mentalität. 

Heutzutage werden unzählige Start-ups gegründet. Viele junge Menschen kündigen also ihre Jobs, machen sich selbstständig und setzen sich für ein bestimmtes Thema ein. Genau das sind die Menschen, die auch die Unternehmen brauchen. Sie sind innovativ und haben richtig Bock, was zu bewegen. Wenn es die deutsche Wirtschaft nicht schafft, diese Menschen für sich zu gewinnen – und das schafft sie mit einer wirklich gelebten agilen Kultur –, wird sie immer weiter abgehängt. Schaut man sich den Plattform-Index an, welcher den Erfolg der wichtigsten Internet-Aktien abbildet, erkennt man, dass Europa bereits jetzt weit abgeschlagen ist. Aus Deutschland ist hier bisher nur der Software-Konzern SAP vertreten. 

Mir kommt noch etwas anderes in den Sinn, was man als Agilitätslüge bezeichnen kann, und zwar die Aussage: „Wenn wir uns agil aufstellen, dann sind wir schneller“. Dabei geht es bei der Etablierung einer agilen Kultur doch um viel mehr, zum Beispiel auch um Gesundheit.

Das stimmt. Aber die Intention „Wir wollen schneller sein“ war vor drei oder vier Jahren noch deutlich präsenter. Damals wurde ich häufig gebeten, Organisationen auf eine einmalige agile Reise mitzunehmen, um die Prozesse zu verschlanken. Aber so funktioniert das eben nicht. Heute geht es vor allem um die Befähigung von Unternehmen und deren Mitarbeitenden, in einer schnelllebigen Welt die richtige Arbeitsweise zu finden, um am Markt zu bestehen. Zugleich erleben Organisationen, dass es durch neue Arbeitsweisen zu Konflikten kommt, da die neue Teamarbeit durch agile Prozesse oder Transparenz für viele auch überfordernd sein kann. Auch hier geht es dann wieder darum, Menschen für die kommende Arbeitswelt „fit zu kriegen“. 

Neben diesen internen Stresssituationen kommen auch noch die globalen hinzu. Wie kann man verhindern, dass man dabei als Organisation oder als Führungskraft wieder in alte Verhaltensmuster verfällt?

Faktisch passiert das gerade schon beim Thema Remote Work. Selbst Organisationen, die sich sehr stark für Agilität und New Work ausgesprochen haben, holen ihre Mitarbeiter:innen zurück ins Büro. Außerdem wird bemängelt, dass ein Zuviel an Mitsprache das Treffen von Entscheidungen stark verlangsamt. Gerade in Krisen braucht es oft eine klare Führung, kurze Entscheidungswege und schnelle Antworten. Ich persönlich würde Unternehmen hier ganz klar dazu raten, sich zu fragen, in welchen Bereichen es Führung und Entscheidungen braucht und welche Themen man den Mitarbeiter:innen überlassen kann. Eine solche Differenzierung gehört eben auch in die agile Welt. 

Eine meiner Lieblingsfragen an Führungskräfte ist: Agierst oder reagierst du gerade? 

Wir Menschen verfallen nämlich sehr schnell in reine Reaktionsmuster. Da ist es besonders wichtig, sich Zeit zu nehmen und retrospektiv zu schauen, was in den letzten Tagen passiert ist und welche Antworten das Unternehmen benötigt. Darauf aufbauend kann man dann die eigene Führung und auch Entscheidungen aktiv gestalten. 

In vielen Unternehmen werden agile Arbeitsweisen eingeführt, ohne entsprechend Zeit dafür einzuräumen. Die Agilität, die eigentlich auch für Gesundheit und Nachhaltigkeit im Beruf steht, wird plötzlich als zusätzlicher Stressfaktor wahrgenommen. Nimmst du das auch wahr?

Ja, das nehme ich leider genauso wahr. Um das zu umgehen, hat der Diplom-Psychologe Carsten C. Schermuly jüngst in seinem Buch „New Work Utopia“ geschrieben, dass Unternehmen 60 Prozent der Arbeitszeit fürs Tagesgeschäft einplanen sollten und grob umschrieben 40 Prozent für Innovation und Transformation. Aber das wird in Unternehmen oft nicht so umgesetzt. Ich gehe daher einen anderen Weg. Nennen wir es mal „den kleinen Dienstweg“. Ich schule Mitarbeitende bei deren Selbstorganisation, ihrer eigenen Agilität und ihrem Zeitmanagement. Es gilt zu lernen, wie man den Arbeitsalltag so strukturieren kann, dass er effizient ist und Luft für Kreativität bleibt. Gerade in Meetings wird oft unnötig viel Zeit verschwendet (siehe dazu auch den Artikel „Gute Meetings muss man lernen“).

Ich frage ganz oft: Was soll auf eurem Grabstein stehen? Dass ihr 80 Stunden die Woche gearbeitet habt?

Wenn Menschen zu viele Überstunden machen, geht es auch häufig um vorherrschende Glaubenssätze. Ich frage ganz oft: Was soll auf eurem Grabstein stehen? Dass ihr 80 Stunden die Woche gearbeitet habt? Überstunden sollten bald der Vergangenheit angehören. Sie lähmen mehr, als dass sie voranbringen. 

Welche Themen sind dir in Bezug auf agiles Führen noch besonders wichtig? 

Zuallererst ist das die Transparenz. Und damit meine ich wirklich komplette Transparenz! Auch in agilen Organisationen wird einigen Teams vorgeworfen, sie hätten die Wirtschaftlichkeit nicht im Blick. Aber wie können die Teams diese im Blick haben, wenn die Zahlen nicht transparent einsehbar sind? Manchmal ist der Grund hierfür, dass die Führungskräfte ihre Mitarbeiter:innen schützen wollen. Aber wir sind doch alles mündige Menschen. Warum sollte ich mich als Führungskraft denn jetzt auch noch als Elternteil aufspielen? 

Das zweite Thema ist Vertrauen oder genauer gesagt die psychologische Sicherheit. 

Das ist die Basis von Kulturarbeit. Nach Amy Edmonson gibt es vier Dimensionen. Ich empfehle jeder Organisationen sich damit zu beschäftigen. So oder so sollten Mitarbeiter:innen immer das Gefühl haben, alle Themen ansprechen zu können. Das trägt nebenbei zu einer echten Fehlerkultur bei – und ohne Fehler keine Innovation! 

Gibt es noch einen abschließenden Ratschlag, den du Unternehmen auf den Weg geben möchtest? 

Ich denke, es gibt kein Patentrezept, welches alle Unternehmen gleichermaßen nutzen können, wenn es darum geht, Agilität einzuführen. Jede Organisation ist individuell aufgestellt und braucht eine eigene Lösung.   

Ein bekanntes Beispiel für das Abschaffen jeglicher Führung und altbekannter Strukturen ist die Metafinanz GmbH. Hierzu gibt es auch spannende Einblicke auf YouTube.

Eine solch drastische Maßnahme kann für die eigene Organisation passen, muss es aber nicht. Ich selbst bin immer ein großer Fan von einem gesunden Mittelweg. Trotzdem sollten Unternehmen immer mutig und kreativ sein. Sie sollten auch mal ganz neue Arbeitsweisen erfinden und große Schritte gehen. Immer so, dass es zu ihnen passt.  

Die Transformation hin zur Agilität sollte Spaß machen und nicht weh tun. Dafür müssen nun mal Zeit eingeräumt und Ressourcen geschaffen werden. Aber am Ende des Tages bekommt man immer mehr heraus, als man hineingegeben hat. So viel steht fest.

Verfasst von:

Marco Springer

Mit seinen vielseitigen Erfahrungen hilft Marco zukunftsfähige Antworten für organisatorische Herausforderungen zu finden und gemeinsam neue Wege zu gehen. Sein Blick für das große Ganze macht ihn dabei zum weitsichtigen Partner für nachhaltige Transformationen mit ganzheitlichem Ansatz. Marco brennt für partizipative Gestaltungsprozesse und die Entwicklung selbstorganisierter Teams.

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