Lebende Systeme statt mechanischer Apparate
Lange Zeit dominierte in der Unternehmensführung eine mechanistische Sichtweise, die Organisationen als Maschinen mit klar definierten, getrennten Teilen betrachtete, die unabhängig voneinander funktionieren. Diese Betrachtungsweise konzentrierte sich auf Effizienz, Kontrolle und die Trennung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten. In einer zunehmend komplexen und dynamischen Welt hat sich jedoch gezeigt, dass diese Sichtweise nicht mehr ausreicht, um aktuellen und zukünftigen Herausforderungen gerecht zu werden.
Die Betrachtung einer Organisation als Organismus bietet einen systemischen Ansatz, der der Komplexität und den wechselseitigen Abhängigkeiten innerhalb einer Organisation besser gerecht wird. Wie in einem lebenden System, in dem alle Teile miteinander verbunden sind und sich gegenseitig beeinflussen, ist es auch in einer Organisation wichtig, die Beziehungen und Interaktionen zwischen den verschiedenen Abteilungen, Teams und Individuen zu verstehen. Diese ganzheitliche Sichtweise ermöglicht es, Muster zu erkennen, Zusammenhänge zu verstehen und damit die Organisationsentwicklung wirksamer zu gestalten.
Die 7 Wesenselemente einer Organisation nach Friedrich Glasl
Friedrich Glasls Modell bietet die Möglichkeit, Organisationen als lebendige, dynamische Systeme zu betrachten, deren Elemente in ständiger Interaktion miteinander und mit ihrer Umwelt stehen. Organisationen werden anhand der drei Urtypen Körper, Geist und Seele betrachtet, die die Grundlage für die sieben Wesenselemente bilden: Identität, Strategie, Struktur, Menschen, Funktionen, Prozesse und physische Mittel. Diese Elemente können genutzt werden, um die interne Funktionsweise und die Wechselwirkungen innerhalb einer Organisation zu verstehen. Die sieben Wesenselemente sind dabei jeweils einem der drei Urtypen zugeordnet.
Betrachtung von Symptomen und Behandlungsätzen auf den drei Urtypen
Im Rahmen unserer Arbeit im Gesundheitswesen haben wir drei Typen von Organisationen anhand des Modells der 7 Wesenselemente näher betrachtet und ihre Symptome auf den drei Urtypen Geist, Seele und Körper erforscht. Dabei haben wir unsere Beobachtungen als Berater:innen und die Berichte unserer Kund:innen aus Krankenhäusern, Krankenversicherungen und Pharmaunternehmen zusammengeführt. Für jeden der drei Organisationstypen haben wir außerdem nach möglichen Ansätzen zur Bewältigung der Symptome gesucht und dabei bereits ergriffene Maßnahmen der Betroffenen sowie von uns identifizierte Lösungsansätze zusammengetragen.
Symptome und Behandlungsansätze der Krankenhäuser
Symptome im Urtyp Körper – Prozesse und physische Mittel
Krankenhäuser stehen aufgrund von Budgetkürzungen und steigenden Betriebskosten vor enormen finanziellen Herausforderungen. Diese finanzielle Belastung lässt nur wenige Ressourcen für Verbesserungen frei, was sich indirekt negativ auf die Patientenversorgung und die Arbeitsbelastung der Mitarbeitenden auswirkt.
Aufgrund der fachbereichsorientierten Organisation und der Fokussierung auf die medizinische Expertise wurden Prozesse bisher nicht durchgängig analysiert, optimiert und digitalisiert. Dadurch bleiben Optimierungspotenziale für die Patient Experience ungenutzt.
Symptome im Urtyp Geist – Identität und Strategie
Die strategische Ausrichtung vieler Krankenhäuser steht häufig im Spannungsfeld zwischen der Notwendigkeit, wirtschaftlich zu arbeiten, und dem ethischen Anspruch, eine optimale medizinische Versorgung zu bieten. Dieses Spannungsfeld führt zu einer identitätsbezogenen Belastung des Selbstverständnisses der Organisation.
Während in anderen Wirtschaftszweigen viele Unternehmen ihre Arbeitsweisen und Strukturen so angepasst haben, dass sie ihr Leistungsspektrum mit ihren Alleinstellungsmerkmalen optimal erbringen können, gibt es unter den Krankenhäusern noch viele Organisationen, die diese Optimierung noch nicht vollzogen haben. Die daraus resultierenden Kosteneinsparungen und Produktivitätssteigerungen bleiben den betroffenen Krankenhäusern daher noch verwehrt.
Symptome im Urtyp Seele – Struktur, Menschen und Gruppen, Funktionen
Das Arbeitsklima in vielen Krankenhäusern ist nach wie vor durch starke Hierarchien und eine harte Feedback- und Fehlerkultur geprägt, was insbesondere jüngere Arbeitnehmer:innen abschreckt und zu einer höheren Fluktuation des Personals führt.
Die Gliederung in medizinische Fachbereiche und unterstützende Funktionseinheiten (z.B. IT, Verwaltung, Pflege) erschwert eine ganzheitliche und durchgängige Betrachtung und Optimierung des Behandlungsverlaufs der Patient:innen.
Unflexible Arbeitszeitmodelle und Schichtdienste tragen darüber hinaus dazu bei, dass Kliniken und Krankenhäuser nicht in der Lage sind, für viele Lebenssituationen gute Rahmenbedingungen zu schaffen, was sich negativ auf ihre Attraktivität als Arbeitgeber auswirkt.
Behandlungsansätze für Krankenhäuser
Eine Analyse der aktuellen Ausrichtung und der konkurrierenden Leistungserbringer kann als Grundlage für die Schärfung der eigenen Strategie dienen. Dabei gilt es zu berücksichtigen, welche aktuellen Bedürfnisse die Patient:innen haben, welche Fachbereiche diese am stärksten adressieren und ob diese bereits angemessen aufgestellt sind. Darauf aufbauend kann eine Medizinstrategie entwickelt werden, die eine Abgrenzung bzw. Spezialisierung ermöglicht. Durch die Konzentration auf ausgewählte Leistungen kann der Arbeitsumfang reduziert und die Optimierung beschleunigt werden.
Um diese kontinuierliche Verbesserung auf Basis der Bedürfnisse von Patient:innen vorzunehmen, sind zudem Strukturen und Kompetenzen für nutzerzentrierte Ansätze notwendig. Diese können durch das Erlernen von Methoden aus dem User-Centered Design oder durch die Etablierung von Mechanismen des iterativen Nachfragemanagements unterstützt werden.
Die Fokussierung durch die Medizinstrategie und der Bezug auf die Bedürfnisse der Patient:innen liefern die Grundlage, um anschließend die Prozesse zielorientiert auf Verbesserungsmöglichkeiten zu untersuchen. Die identifizierten Potenziale können dann durch Optimierung von Arbeitsweisen sowie durch Digitalisierung und Automatisierung gehoben werden.
Um die Voraussetzungen für diese Maßnahmen zu schaffen, bedarf es einer qualifizierten Führung. Führungskräfte benötigen die Kompetenzen, Teams zu leiten, die patientenzentriert und interdisziplinär Prozessverbesserungen auf den Weg bringen. Sie sollten in der Lage sein, die gemeinsame Problemdefinition und Lösungsfindung zu unterstützen und den Aufbau einer End-to-End-Verantwortung für die Patientenreise zu fördern.
Symptome und Behandlungsansätze der Krankenversicherungen
Symptome im Urtyp Körper – Prozesse und physische Mittel
Strenge regulatorische Vorgaben hemmen die operative Flexibilität und Innovationsfähigkeit der Krankenversicherungen. Dies erschwert es, rasch auf die Bedürfnisse der Versicherten zu reagieren oder Optimierungen durch verbesserte Prozesse oder neue Technologien umzusetzen.
Aufgrund der hohen Ausgaben, die durch gesetzliche Vorgaben, den Anstieg der Behandlungskosten und die Alterung der Beitragszahler:innen verursacht werden, können nur in geringem Umfang Mittel für die Verbesserung des laufenden Geschäfts freigesetzt werden. Daher bleiben Digitalisierung und andere Maßnahmen zur Automatisierung und Effizienzsteigerung teilweise ungenutzt.
Symptome im Urtyp Geist – Identität und Strategie
Viele Krankenkassen stehen vor der Herausforderung, dass sie von den Versicherten nicht als kompetente Ansprechpartnerin für Gesundheitsfragen, sondern als Kostenträgerin im Hintergrund wahrgenommen werden. Dies beeinträchtigt ihre Fähigkeit, sich als innovative Partnerin im Gesundheitswesen zu etablieren.
Die derzeitige Fokussierung auf die Kostenträgerfunktion erschwert zudem eine klare und attraktive Darstellung und Kommunikation der erbrachten Leistungen. Damit wird bei den Versicherten das bestehende Bild der Krankenversicherung als Institution der reinen Absicherung im Krankheitsfall aufrechterhalten.
Symptome im Urtyp Seele – Struktur, Menschen und Gruppen, Funktionen
Eine noch wenig ausgeprägte Kundenzentrierung, die von einer auftragsorientierten Sachbearbeitung überlagert wird, erlaubt es nicht, die Bedürfnisse der Versicherten über die Kostenübernahme hinaus stärker zu adressieren. Häufig verhindert auch die Strukturierung in funktional getrennte Organisationseinheiten eine ganzheitliche Betrachtung der Kundenreise.
Die Mitarbeitenden der Krankenkassen verfügen im Vergleich zu den großen IT-Unternehmen bisher nur über eine geringe Technologiekompetenz. Dies hemmt den innovativen Einsatz von Technologien entlang der Bedürfnisse der Versicherten. Im Gegensatz zu Unternehmen, die sich primär auf die Prävention von Krankheiten konzentrieren, oder Leistungserbringern wie Kliniken, können Krankenkassen auch in Bezug auf die Kompetenzen rund um die Gesundheit ihrer Versicherten nicht ganz Schritt halten.
Behandlungsansätze für Krankenversicherungen
Die Behandlungsansätze für Krankenversicherungen drehen sich stark um die Positionierung als Partnerin für die Gesundheit der Versicherten. Statt weiterhin nur die wenig sichtbare Zahlstelle zu sein, kann die Rolle einer Wegweiserin für die Kund:innen eingenommen werden. Dabei werden die Versicherten kompetent über geeignete Behandlungsmöglichkeiten oder individuelle Präventionsmaßnahmen beraten.
Die stärkere Integration mit den Leistungserbringern ermöglicht zudem eine Annäherung an die Versicherten, wodurch deren Bedürfnisse besser erkannt und bearbeitet werden können. Dadurch können ganzheitlichere Lösungen entwickelt und das Kosten-Nutzen-Verhältnis optimiert werden.
Die Digitalisierung und Automatisierung von Prozessen kann dazu beitragen, mehr Zeit und Personal für die Verbesserung der Leistungen freizusetzen. Die knappen monetären Ressourcen könnten so effizienter für die Erfüllung der Bedürfnisse der Versicherten eingesetzt werden.
Symptome und Behandlungsansätze der Pharmaunternehmen
Symptome im Urtyp Körper – Prozesse und physische Mittel
Die strikte Einhaltung von Vorschriften und internen Richtlinien führt oft zu einem gleichbleibenden Verhalten und einer kritischen Haltung gegenüber Veränderungen, was dem Gedanken des Growth Mindset und der kontinuierlichen Verbesserung entgegensteht. Dies behindert die Optimierung von Abläufen, z.B. durch effizientere Arbeitsweisen oder schnellere Entscheidungsfindung.
Symptome im Urtyp Geist – Identität und Strategie
Angesichts der Wahrscheinlichkeit, dass viele Arzneimittel aufgrund der im Entwicklungsprozess gewonnenen Erkenntnisse und getroffenen Entscheidungen nicht zur Marktreife gelangen, besteht eine Tendenz zur Risikostreuung. Dies führt dazu, dass viele Präparate parallel entwickelt werden, um mit den wenigen Medikamenten, die die Zulassung und den Markteintritt schaffen, die hohen Forschungskosten noch decken zu können.
Die hohe Arbeitsbelastung durch parallele Entwicklungsprozesse führt dazu, dass wenig Zeit für die Weiterentwicklung der eigenen Organisation bleibt. Potenziale der Personalentwicklung und der kontinuierlichen Verbesserung von Arbeitsweisen bleiben dadurch teilweise ungenutzt.
Symptome im Urtyp Seele – Struktur, Menschen und Gruppen, Funktionen
Die Erforschung neuer Therapien für Krankheiten erfordert ein tiefes Fachwissen. In der Organisation von Pharmaunternehmen finden sich daher viele Mitarbeitende mit schmalen, aber tiefen Kompetenzprofilen. Diese Profile erschweren die interdisziplinäre Zusammenarbeit und führen stattdessen oft zu einer Auseinandersetzung zwischen individuellen Expertisen und Perspektiven.
Die zusätzliche Gliederung in Fachbereiche, die sich z.B. auf medizinische, regulatorische oder kommerzielle Belange konzentrieren, verfestigt zudem das Silodenken und die fragmentierte Betrachtung der eigenen Entwicklungsmöglichkeiten. Dadurch werden Probleme oft nur aus dem Blickwinkel der jeweiligen Funktion betrachtet und Chancen für übergreifende Verbesserungsinitiativen verpasst.
Behandlungsansätze für Pharmaunternehmen
Um die Organisationsentwicklung in forschenden Pharmaunternehmen zu ermöglichen, ist die Priorisierung und Fokussierung von Therapien in Entwicklung essentiell. Durch die Wahl kalkulierter Risiken kann die Parallelisierung von Entwicklungsprozessen reduziert und damit mehr Raum für zukunftsorientierte Verbesserungen geschaffen werden.
Ist Zeit für Verbesserungen geschaffen, dann können interdisziplinäre Gruppen zusammengeführt werden, die ein gemeinsames Verständnis der Bedürfnisse von Patient:innen sowie der Verbesserungspotenziale in der eigenen Organisation erkunden.
Auf dieser Grundlage können dann funktionsübergreifende Teams die Verantwortung u.a. für die ganzheitliche Optimierung von Prozessen, Strukturen und Arbeitsweisen übernehmen. Dies kann durch Methoden der systemischen Organisationsentwicklung wirkungsvoll unterstützt werden.
Wie hilft diese Sichtweise bei der Entwicklung von Organisationen?
Durch die Betrachtung der Symptome anhand der drei Urtypen und sieben Wesenselemente werden Abhängigkeiten und Wechselwirkungen deutlich. So wird beispielsweise sichtbar, dass Aspekte, die sich zunächst nur im Urtyp Geist zeigen, wie z.B. eine unklare strategische Ausrichtung, dennoch unmittelbare Auswirkungen auf andere Elemente haben können. Eine unklare Ausrichtung kann z.B. zu einem erhöhten Arbeitsaufwand führen, da viele Initiativen gleichzeitig verfolgt werden. Dies wiederum kann dazu führen, dass nur wenig Zeit für die kontinuierliche Verbesserung der Prozesse zur Verfügung steht. In der Folge werden dann Ineffizienzen oder Redundanzen im Urtyp Körper sichtbar.
Damit wird deutlich, dass für eine ganzheitliche und nachhaltige Bewältigung der Herausforderungen nicht immer nur an einer Stelle angesetzt werden kann, sondern bestimmte Symptome von mehreren Seiten behandelt werden sollten. Die Annahme, dass es z.B. für eine kontinuierliche Verbesserung von Abläufen ausreicht, den Mitarbeitenden Lean-Management-Tools zu vermitteln, kann so sinnvoll erweitert werden. Aus den identifizierten Wechselwirkungen zwischen den Wesenselementen kann die Erkenntnis entstehen, dass sowohl die Befähigung der Mitarbeitenden durch Trainings zu Prozessverbesserungen als auch die Reduktion ihrer Arbeitsbelastung durch eine klarere strategische Ausrichtung berücksichtigt werden sollten.
Die Abkehr von einer mechanistischen Sichtweise hin zu einer Sichtweise, die Organisationen als Organismen begreift, führt dazu, dass verwobene Problemstellungen auch als solche betrachtet und bearbeitet werden können. Mit diesem systemischen Ansatz wird die Grundlage für eine effektive und nachhaltige Organisationsentwicklung gelegt, die den Herausforderungen unserer Zeit gerecht wird.
Über diesen Beitrag
Dieser Beitrag basiert auf dem Impulsvortrag im Rahmen des zero360 Leadership Forums „next – Die Organisation von morgen“. Am 18. April 2024 stand die Ausgabe unserer Veranstaltungsreihe ganz im Zeichen des Wandels und der zukünftigen Ausrichtung von Organisationen im Gesundheitswesen. Dazu versammelte sich eine Vielzahl von Expert:innen und Entscheidungsträger:innen, um Herausforderungen und mögliche Ansätze für die Transformation hin zu einem ganzheitlichen, effizienten und nachhaltigen Gesundheitssystem zu erkunden.
Verfasst von:
Marco Springer
Verfasst von:
Dr. Nadja Berseck