Innovation

Nachhaltigkeit und Ko-Kreation: Wie die Deutsche Börse ein Ökosystem für Sustainable Finance aufbaut.

Im Gespräch mit Christina Sell über Nachhaltigkeit, Netzwerk und Führung bei der Deutschen Börse

Dr. Nadja Berseck
November 8, 2023
6 min Lesezeit

Christina Sell ist Chief Sustainability Officer für Trading und Clearing bei der Deutschen Börse mit dem Schwerpunkt auf nachhaltige Finanzierungen und Investments, sogenannten ESG-bezogenen Produkten and Services. Mit uns spricht Christina Sell über die Nachhaltigkeitsziele der Deutschen Börse, den Stellenwert eines guten Netzwerks und die daraus entstehende Rolle von Führung. 

Christina, vor einiger Zeit hat die Deutsche Börse einen ESG Ko-Kreations-Workshop mit Vertreter:innen diverser Banken und Finanzinstitute veranstaltet. Was hat dich dazu bewogen, den Schritt über die eigene Organisation hinauszugehen, um das Thema Sustainable Finance voranzutreiben? 

Die Klimakrise ist eine globale Menschheitskatastrophe, hier muss jedes Unternehmen einen Beitrag leisten. Wir haben uns im Vorjahr sehr intensiv mit unseren eigenen Ideen und Initiativen auseinandergesetzt und gemerkt, dass unser Potenzial, dieses Thema allein zu bearbeiten, begrenzt ist. Genauso wie alle anderen Wirtschaftsorganisationen sind wir darauf angewiesen, mit Produkten Geld zu verdienen. Dann ist eigentlich der nächste logische Schritt, dass man sich nach draußen wendet, Expertise einholt, sich inspirieren lässt und schaut, was daraus für das eigene Unternehmen entstehen kann. 

Wie sind denn Deine Erfahrungen, wenn es darum geht, in übergreifenden Netzwerken zu arbeiten und gemeinsam Lösungen zu entwickeln? 

Die Begeisterung, die unser Ko-Kreation-Workshop unter den Teilnehmer:innen geweckt hat, ist natürlich auch bei uns intern sehr gut angekommen und hat mir geholfen weiter für die Wichtigkeit des Themas zu argumentieren. Wenn ich mir überlege, was die besten Treiber sind, um Themen voranzubringen, dann sind es an erster Stelle ganz klar regulatorische Anforderungen, aber an zweiter Stelle steht echtes Kund:inneninteresse. Und das gibt es. 

Im Moment finden sehr viele Unternehmen diesen Ko-Kreationsansatz super spannend, weil alle im Rahmen der Sustainable Transformation auf der Suche nach Austausch sind. Nöte, Sorgen und Ideen zu teilen und gemeinsam weiterzuspinnen, wird von vielen als gute Möglichkeit gesehen. Spannend wird es, wenn man versucht, diese Ideen in die Tat umzusetzen. Wenn es also darum geht, über diese erste Konzeptphase hinauszugehen und Geld in die Hand zu nehmen, um gemeinsame Konzepte weiterzutreiben. Da kommen schnell erste Diskussionen hinsichtlich des geistigen Eigentums auf. Wer macht was? Wo sind die Verantwortlichkeiten? Wieviel Einfluss behalte ich? 

Hast Du schon eine Idee, wie Du diese Herausforderung umschiffst?  

Eine Lösung könnte sein, erstmal nur mit ein oder zwei ausgewählten Partner:innen zu starten und eine vertrauensvolle Beziehung aufzubauen. Mit dieser kleinen Runde kann man klassische Joint Ventures gründen und muss nicht direkt viele Partner:innen in ein größeres Netzwerk einbinden. Wenn man nur mit zwei Parteien diskutiert, um eine Entscheidung zu treffen, geht es natürlich schneller, als wenn zehn Parteien am Tisch sitzen.

Die Deutsche Börse ist als Marktinfrastrukturbetreiber in einer speziellen Position. Hast Du das Gefühl, dass euch eine besondere Rolle in so einem Ökosystem zukommt?  

Absolut. Wir haben in diesem Workshop gemerkt, dass uns die verschiedenen Marktteilnehmenden in einer Vermittlerrolle sehen. Wir sind neutral, und dadurch trauen uns viele Kund:innen zu, dass wir in der idealen Position sind, Unternehmen zu verbinden, an einen Tisch zu holen und Themen konsolidiert weiterzutreiben. Es leuchtet sicherlich ein, wenn man sich vorstellt, dass eine große Bank bei einem direkten Wettbewerber mit der Frage anruft, gemeinsam Thema x und y voranzutreiben. Da sind wir ganz schnell in einer Compliance Dimension, im Wettbewerbsrecht und bei der Frage, wie viel Absprache man eigentlich treffen darf. Uns fällt das natürlich leichter, weil wir eben nicht der direkte Wettbewerb sind.  

Wie wichtig ist denn aus Deiner Perspektive das Thema Führung in der Nachhaltigkeitstransformation?  

Führungspersonen sind in einem Unternehmen besonders visibel und sie treffen am Ende die Entscheidungen. Das heißt, wenn das Management nicht von Nachhaltigkeit als wichtigem Thema überzeugt ist, dann wird da auch nichts passieren. Bei der Deutschen Börse gibt es eine große Offenheit für das Thema. Gleichzeitig müssen wir große Sorgfalt walten lassen. Die Anzahl der Mitarbeitenden, die eine ausgewiesene ESG-Expertise haben, wächst. Ich glaube, dass alle Unternehmen die Herausforderung haben, dass je höher man in der Hierarchie geht, umso höher auch die Umsatzverantwortung ist. Nachhaltigkeit wird auch gegenüber Wirtschaftlichkeit abgewogen. 

Das hört sich spannend an und zeigt auch, wie unterschiedlich die Rollen sind, die Führungspersonen einnehmen, um Nachhaltigkeit in die Organisation zu tragen.

Es gibt die Visionärin, die idealerweise optimistische Zukunftsbilder gestaltet, die andere mitnehmen. Die Agentin des Wandels, die den Mut haben, gewisse Strukturen und Entscheidungsmuster zu hinterfragen. Die Begleiterin, die sich selbst und die Rolle als Führungskraft hinterfragt, das Team zu mehr Eigenverantwortung und Selbstwirksamkeit befähigt. Und zu guter Letzt die Architektin, die Organisationsgrenzen überschreitet und im Netzwerk versucht in einer ganzen Branche einen Wandel herbeizuführen.

In welcher Rolle siehst Du Dich?   

Die Rollen sind ganz eng miteinander verknüpft. Aber tatsächlich sehe ich mich als eine Mischung aus Architektin und Visionärin, weil ich bestimmte Szenarien antizipiere. Ich bin immer auf der Suche nach neuen Möglichkeiten und Opportunitäten, um konkrete Vorschläge und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Auf der anderen Seite versuche ich aber auch die Dringlichkeit dieses Themas zu vermitteln. Zum Beispiel habe ich vor kurzem zu einem Meeting ein paar Zahlen mitgebracht, um zu zeigen, dass der Juni wieder neue Rekordtemperaturen hervorgebracht hat – sowohl auf der Erd- als auch auf der Meeresoberfläche. Und dies, obwohl wir die viel zitierten Kipppunkte noch gar nicht erreicht haben. Die Klimakatastrophe findet statt und das muss man auch immer wieder transparent machen.

So langsam wie sich die Transformation insgesamt vollzieht, werden wir früher oder später auf die berühmt berüchtigte „disorderly Transformation“ zusteuern. Das heißt, irgendwann wird der Zeitpunkt kommen, wo auch der Regulator die Daumenschrauben anzieht, weil es gar nicht mehr anders geht. Was wird zum Beispiel passieren, wenn wir eine CO2-Steuer bekommen, die sich so richtig gewaschen hat? Das hat die Kraft, Märkte wirklich zu verändern. Und wenn wir uns jetzt nicht vorbereiten, wenn wir jetzt nicht die Expertise aufbauen, wenn wir jetzt nicht anfangen, uns damit auseinanderzusetzen, sind wir dann, wenn es regulatorisch relevant wird, überhaupt nicht in der Lage die Anforderungen umzusetzen. Dinge werden nicht über Nacht implementiert. Größere Anpassungen brauchen in allen Unternehmen mindestens einen Vorlauf von ein, zwei Jahren. Diese Szenarien versuche ich immer in das Unternehmen zu tragen. Je mehr Mitstreiter:innen man kriegt, desto lauter wird diese Botschaft. Die Frage ist eben, wie kann ich diese Mitstreiter:innen finden und strategisch aufbauen?   

Kannst Du uns einen Einblick geben, wie Du das angehst? 

Der Ko-Kreations-Workshop ist ein gutes Beispiel. Man muss dranbleiben und die etablierten Kontakte nutzen, um weiterzuarbeiten und ein Netzwerk aufzubauen. Auch wenn mal ein Faden abreißt oder es an einer Stelle nicht weitergeht, tun sich dadurch immer wieder neue Möglichkeiten auf. Es führt zu einer Art Institutionalisierung, wenn man Wissen verbreitet und mit mehr und mehr Menschen in einen Diskurs geht. Dadurch steigt auch die gesamte Unternehmensexpertise. Ich nehme hier mich als Beispiel: Wir haben kein großes Team, aber dadurch, dass ich mit vielen Menschen unterschiedlicher Fachbereiche immer wieder ins Gespräch gehe, wächst das gesamte Ökosystem und immer mehr Kolleg:innen haben Nachhaltigkeit auf ihrer Agenda.  

Hast Du auch konkrete Formate, mit denen Du dieses Ökosystem bespielst? 

Wir haben beispielsweise ein Sustainability Breakfast für Mitarbeitende. Dieses Jahr binden wir auch unsere internationalen Standorte ein, die in Breakout Sessions lokal diskutieren und Ideen einbringen können. Dadurch können wir die Ergebnisse dieser Diskussion stärker systematisieren. Es funktioniert aber auch immer gut, einfach ein paar Kolleg:innen zu einem internen Roundtable einzuladen, um dort Menschen zusammenzubringen, die voneinander gar nichts wissen. Daraus entsteht dann wieder etwas Neues. 

Hast Du eine Empfehlung, die Du Führungskräften mitgeben würdest, um das Thema Nachhaltigkeit voranzutreiben? 

Man muss eine gewisse Ausdauer mitbringen und nicht erwarten, dass sich die Dinge sofort von heute auf morgen ändern. Der Blick sollte immer in zwei Richtungen gehen: Einmal nach vorne mit dem Wissen, dass Wege auch einfach im Gehen entstehen. Auf der anderen Seite lohnt es sich, sich auf diesem Weg ab und zu umzudrehen und zu erkennen, wie weit man schon gegangen ist. 


Verfasst von:

Dr. Nadja Berseck

Nadja ist Business Innovatorin, Stadtforscherin und Floßkapitänin in einem. Sie begeistern kreative Interventionen im Stadtraum. Während sie bei zero360 ihre unternehmerischen und gestalterischen Fähigkeiten kombiniert, um mit Elan neue Geschäftsmodelle zu entwickeln, schippert Nadja am Wochenende mit dem selbstgebauten Recycling-Floß die Spree entlang.

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