Transformation

Fünf Entscheidungsstrategien für unsichere Zeiten

Oder – warum die Suche nach Wissen manchmal keine Handlungssicherheit gibt

Veit Vogel
Dezember 13, 2021
6min Lesezeit

Die Pandemie war nur der letzte Anstoß für eine nachhaltige Veränderung, die wir auch schon vorher gespürt haben: die VUCA-Welt. Besonders Entscheider:innen spüren daher aktuell, was der Soziologe Ulrich Beck mit dem Entscheidungsparadoxon beschreibt: 

Das Entscheidungsparadoxon und die Frage, wie trifft man unmögliche Entscheidungen? 

Je größer die Gefahr des Nichthandelns, desto größer ist die Unsicherheit darüber, was zu tun ist, und umso wichtiger, aber auch gleichzeitig unmöglicher, sind richtige Entscheidungen

(Beck, Ulrich, Weltrisikogesellschaft, 2015, S. 215)


Ein Blick auf Lösungsfindungsansätze der Zukunftsforschung 

Von Unternehmen, die sich in einem Transformationsprozess befinden, hören wir, dass es eher zu viele Meinungen und Lösungsansätze gibt als zu wenige. Die brennendste Herausforderung ist nicht die Frage „Was soll ich umsetzen?“, sondern „Wie soll ich es umsetzen?“. 

Dahinter steht oft die übergeordnete Frage: „Wie können wir Entscheidungen treffen, ohne das Wissen darüber zu haben, was zu tun ist?“ Die Zukunftsforschung beschäftigt sich oft mit Fragen dieser Art. Wir wollen heute einen Einblick geben, wie uns die Erkenntnisse der Futurologie in komplexen und unsicheren Projekten helfen, in Projekten, in denen zu Beginn nicht klar ist, wie die Ergebnisse aussehen werden — und die trotzdem (oder gerade deshalb) ein Vorgehen benötigen, das dem Projektteam und den Beteiligten Sicherheit und Orientierung gibt, wo eigentlich gar keine ist. Wie kann so etwas funktionieren?


Wie Zukunftsforscher:innen denken 

Warum brauchen wir überhaupt Strategien gegen Unsicherheit? Weil wir es bei unseren Entscheidungen immer mit einer offenen, also unsicheren Zukunft zu tun haben. Die Zukunft ist immer offen, sie kann uns stets überraschen — und das ist auch gut so! Diese Offenheit ist die Freiheit, durch Handlungen in der Gegenwart Zukunft zu gestalten. Gerade in der Situation der Pandemie, aber auch der Klimakrise, merken wir, wie stark genau dieses Handeln in der Gegenwart Zukunft verändert. Mit „flatten the curve“ wurden wir sehr drastisch an unser Potenzial als Gesellschaft erinnert: Mit abgestimmten Handlungen der Einzelnen können wir auf ein großes Ganzes einwirken.

Das heißt: Um Zukunft zu gestalten, benötigt es Zielbilder und gemeinsame Handlungen trotz Unsicherheit und Komplexität. Je größer und indirekter die Herausforderung ist, umso mehr Abstimmung der ansonsten oft unsichtbaren Wirkungsketten benötigt es — und umso schwieriger wird’s. Wie bereits eingangs erwähnt, bedeutet das laut dem Soziologen Ulrich Beck: 

Je größer die Gefahr, desto größer das Nichtwissen, desto notwendiger und unmöglicher die Entscheidung (…).

Beck beschreibt das als Phänomen unserer heutigen Zeit, er nennt sie auch reflexive Moderne. Damit grenzt er sie von der Moderne ab, in der es die bevorzugte Lösungsstrategie unserer Gesellschaft war, Unsicherheiten durch Verwissenschaftlichung aller Lebensbereiche unter Kontrolle zu bekommen. Die These war: Wenn wir Unsicherheiten haben, dann fehlt es uns an Wissen. Wissenschaft hilft uns dabei, Wahrheiten zu finden. Erst dadurch habe ich keine Unsicherheiten mehr und kann rational entscheiden. In der reflexiven Moderne haben wir nach Beck aber erkannt, dass die Suche nach Wahrheiten, statt Unsicherheiten zu verkleinern, sie vergrößern kann. Einfacher gesagt hat das auch schon Einstein: „Je mehr ich weiß, desto mehr weiß ich, dass ich nicht weiß.“


Die Gedanken im Kopf eines oder einer Zukunftsforscher:in könnte man so zusammenfassen

Zukunft ist kein Event, das auf uns zukommt. Wir können sie nicht berechnen. Wir können sie nur durch Handlungen in der Gegenwart gestalten. Zukunftsgestaltung benötigt abgestimmtes Handeln trotz Unsicherheit und Komplexität. Je größer die Probleme, desto mehr gesellschaftliche Abstimmung braucht es. Der Versuch, Unsicherheit durch die Suche nach Wissen und Wahrheiten aufzulösen, zeigt, dass zumindest kurzfristig noch mehr Ungewissheiten entstehen. Wissenschaftliches Arbeiten ist für Gesellschaften essenziell, aber als alleinige Strategie für Handlungsfähigkeit trotz Unsicherheit reicht sie oft nicht aus. Menschen kennen dieses Problem und haben einen bunten Strauß an Möglichkeiten des Umgangs damit gefunden – oft unbewusst, manchmal sehr bewusst. 

Exkurs — Beispiel für den bewussten Einsatz von Nichtwissen in der Kommunikation der US-Regierung vor Beginn des Irak-Kriegs.


Typische Strategien gegen Unsicherheiten 

In der Zukunftsforschung gibt es einige Ansätze, Strategien gegen Unsicherheit zu kategorisieren. Unsere favorisierte Kategorie nennt sich Unsicherheitsabsorptionsstrategie. Folgende fünf Strategien helfen uns einzuordnen, welche Möglichkeiten es gibt, welche bereits genutzt werden und welche gegebenenfalls übersehen wurden.

Strategie ① – Unsicherheiten verleugnen 

Entscheider:innen oder Organisationen leugnen nach außen ihre Unsicherheiten und konstruieren dadurch für andere vermeintliches Wissen und Sicherheit. Ein typisches Beispiel dieser Strategie sind Aussagen wie diese:

Source ↗︎


Strategie ② – temporäre Als-ob-Wahrheiten 

Entscheider:innen akzeptieren Unsicherheiten und schaffen durch temporäre Wahrheiten, bis diese widerlegt werden, vorläufige Handlungsfähigkeit. Der Lockdown und die Ausgangsbeschränkungen mit Datum sind ein typisches Beispiel dieser Strategie. Durch die Entscheidung wird eine komplexitätsreduzierende Wahrheit temporär kommuniziert. Sie schafft für Betroffene eine Einfachheit, ohne im Vorhinein die Sicherheit zu haben, dass sie funktioniert und allgemein und immer richtig ist. Beispiel: Ausgangssperren oder Maskenpflichten.





Strategie ③ – lebenslanges Lernen

Entscheider:innen oder Organisationen geben den Anspruch auf Sicherheit über Wahrheiten auf, und der Modus der „Wissensannäherung“ wird als Normalität angenommen. Durch lebenslanges Lernen werden alte Sicherheiten durch neue Erkenntnisse immer wieder angepasst. Dieser Modus findet beispielsweise in der Erweiterung von Radwegen statt. Die davor geltenden Wahrheiten (motorisierter Individualverkehr wird priorisiert) werden nach und nach auf das gestiegene Bedürfnis nach Mobilität außerhalb des ÖPNV angepasst. 




Strategie ④ – Infrastruktur für Akteur:innen statt Lösungen für alle 

Entscheider:innen geben den Anspruch auf, Expertisen für eine Entscheidung zu besitzen. Sie entwickeln ihre Rolle in Richtung Lernbegleitende und Infrastrukturanbietende weiter. Dadurch schaffen sie Rahmenbedingungen, damit Expert:innen selbst untereinander viele kleine Lösungen aushandeln können. Ein Beispiel dafür sind Stadtverwaltungen, die, statt Lösungen selbst anzubieten, Bottom-up-Initiativen kuratieren und verstärken.

Source ↗︎



Strategie ⑤ – Aufbau von Netzwerken 

Bei dieser Strategie gruppieren sich Organisationen, um die Unsicherheiten durch Wissensaustausch und gemeinschaftliches, statt konkurrierendes Handeln zu absorbieren. Ein Beispiel für diese Strategie ist die Initiative #WirVsVirus der Bundesregierung. 





In der Praxis findet oft eine Kombination unterschiedlicher Strategien statt. Uns helfen die Typologien, um bestehende Maßnahmen einzuordnen und gezielt unterrepräsentierte Strategien zu identifizieren. 

Nicht eine Strategie, sondern der kontextabhängige Strategiemix ist entscheidend. 

Oft lesen wir in den letzten Monaten, dass Agilität die Antwort auf viele bis alle Probleme liefern soll. Wir finden agile Methoden extrem wertvoll, um in chaotischen und komplexen Situationen Projektfortschritte zu erzielen, dennoch ist auch Agilität als Kombination der Unsicherheitsabsorptionsstrategien ② und ③ kein Wundertrank. Wir empfehlen, genauer hinzuschauen und die für den Kontext passende Strategie zu identifizieren. Wir glauben sogar, dass das die organisationale Superkraft der Zukunft sein wird. Für den Moment helfen uns die oben beschriebenen Strategien in Kombination mit dem Cynefin-Modell dabei, Rahmenbedingungen zu schaffen, in denen trotz Unsicherheit und Komplexität Entscheidungen getroffen und Lösungen erarbeitet werden. 

Vielen Dank an unsere Kollegen vom Hybrid City Lab für diesen spannenden Artikel.

Wir sind gespannt zu erfahren, wie ihr entscheidet, wann agile Methoden genutzt werden sollen. Wie geht ihr im Team, in der Organisation mit chaotischen Rahmenbedingungen um? Wie konstruiert ihr Sicherheit, sodass Handlungsfähigkeit gewährleistet ist? Wir freuen uns auf den Austausch hello@zero360.de 

Verfasst von:

Veit Vogel

Veit hilft urbane Interventionen und Dienstleistungen zu gestalten, die die Menschen schätzen. Er ist Futurist, Designer und Stadtplaner. Seine Aufgabe ist es, zukünftige Unsicherheiten in aktuelle Entscheidungen zu übersetzen. Außerdem besteht er darauf, dass Innovation kein PDF-Produktionsgeschäft ist.

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