Transformation

Zukunftsbilder zum Leben erwecken 

Wie man das, was (noch) nicht existiert, greifbar und diskutierbar macht – für eine aktive und kreative Auseinandersetzung mit Zukünften und gegenwärtigem Handeln

Cornelia Tocha
Juni 18, 2024
8 min Lesezeit

Bis zum Jahr 2030 werden in Deutschland rund fünf Millionen Fachkräfte fehlen. Künstliche Intelligenz löst eine weitere industrielle Revolution aus, die in den kommenden Jahren beinahe jede Branche von Grund auf verändern wird. Erkenntnisse aus Medizin und Biotechnologie könnten die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen drastisch verlängern, wodurch Altern eine andere Bedeutung bekommt. In 100 Jahren könnten 30% der Weltbevölkerung in Lebensräume leben, die für den Menschen als unbewohnbar gelten.

Wir alle kennen Prognosen und Thesen dieser Art. Meist haben wir ein ungefähres Gefühl, welche Zukunftserzählung wir uns herbeiwünschen und welche nicht, aber darüber hinaus nur eine vage Vorstellung davon, was sie in letzter Konsequenz wirklich bedeuten und welche Rolle wir oder unsere Organisation dabei spielen könnten. Unsere Auseinandersetzung mit Zukunft bleibt, wenn sie sich auf Texte, Daten und statistische Modelle beschränkt, oft abstrakt, fluide, oberflächlich – und damit weit weg von unserem jetzigen Leben und Tun.

Wir glauben: Das muss sich ändern. Wir brauchen eine aktive und kreative Auseinandersetzung mit dem, was sein könnte – und vor allem auch dem, was sein sollte. Warum? Weil alles, was real wird, in der Vergangenheit einmal spekulativ war, und wir als Individuen, aber vor allem auch als Organisationen jetzt die Chance haben, die Zukunft mitzugestalten. Doch um Wünschbares voranzutreiben und neue Handlungsmöglichkeiten im Hier und Jetzt zu erkennen, brauchen wir unsere Vorstellungskraft. Denn was wir uns nicht vorstellen können, wird weniger oft Realität – besonders auf der Ebene von Gesellschaften und Organisationen. Oder um es mit den Worten des Futuristen, Universitätsprofessors und Designers Stuart Candy zu sagen: “The great existential challenges facing the human species can be traced, in part, to the fact that we have underdeveloped discursive practices for thinking possible worlds ‘out loud’, performatively and materially, in the register of experience. That needs to change.“

Was sind Zukunftsszenarien?

Bei der Szenarienarbeit machen wir für einen Kontext verschiedene Möglichkeitsräume auf: Ausgehend von dem, was wir von der Vergangenheit wissen (Muster, Traditionen, Bewegungen) und in der Gegenwart beobachten (Trends, Megatrends, Schlüsselfaktoren, vorherrschende Visionen und Zukunftserzählungen), analysieren wir, was in Zukunft sein könnte. Im vergangenen Jahr haben wir u.a. Szenarien für die Zukunft von Gesundheit & Versicherungen, für die Zukunft des Lebensmitteleinzelhandels, für die Zukunft von Haushalt & Wohnen, oder für die Zukunft von Banken entwickelt. Natürlich können auch wir nichts vorhersagen. Aber wir können aufzeigen, was möglich sein könnte, und dadurch wiederum zu Auseinandersetzung und Diskurs anregen, was sein sollte – mit der Welt, und der eigenen Organisation. Dies kann wiederum strategische Entscheidungen, Innovationsprozesse oder auch Changeinstrumente informieren.


Herausforderungen in der Arbeit mit Zukunftsszenarien

Doch mögliche Zukünfte greif- und nahbar zu machen, ist gar nicht so leicht. Das erleben wir bei zero360 beispielsweise dann, wenn wir für und mit Organisationen Zukunftsszenarien entwickeln. Insbesondere komplexe Szenarien, die verschiedene Weltzustände, Dimensionen und Lebensbereiche durchdeklinieren, und eine mögliche Rolle einer Organisation innerhalb dieser Welten aufzeigen, werden in ihrer Dichte und Ausführlichkeit schnell schwer zugänglich. Hinzu kommt, dass die Auseinandersetzung mit Zukünften Übungssache ist – ist man es nicht gewöhnt, zwischen verschiedene „Could-bes“ hin- und herzuspringen, kann es sich zunächst sehr mühsam anfühlen.

Unsere Aufgabe als Partner:innen an der Schnittstelle zwischen Zukunftsforschung, Design und Organisationsberatung ist deshalb: Diesen Zugang für ein breites Publikum erleichtern, das Vorstellen, Verstehen und Aushandeln möglicher zukünftiger Welten so barrierefrei, mühelos, interessant, partizipativ und damit eben auch so wirksam wie möglich machen. Gelingen kann dies durch eine Vielfalt an Kommunikationsmitteln und -formen, in denen unterschiedliche Lernstile und Vorlieben der Menschen angesprochen werden. Auf drei Formen wollen wir hier eingehen – Fiktion, Interaktion, und Immersion.

1. Fiktion: Zukunftsgeschichten rezipieren

Eine der effektivsten Methoden, um mögliche Zukünfte greifbar zu machen, ist die Nutzung von Fiktion. Durch Geschichten in Text-, Film- oder Audioform können wir abstrakte Ideen in konkrete, nachvollziehbare Szenen verwandeln und Emotionen zu wecken.

Die Macht von Geschichten im Kontext von Organisationen zeigt sich in der Tatsache, dass Science-Fiction-Autor:innen zunehmend von großen Unternehmen wie Google, Microsoft und Apple engagiert werden. Ihre Stärke: Sie sind in der Lage, das, was (noch) nicht existiert, überzeugend zu transportieren und dadurch neue Perspektiven auf die Welt schaffen, die dazu anregen, unsere Annahmen zu hinterfragen, und in einer sich verändernden Welt die richtigen Fragen zu stellen.

Für diejenigen unter uns, die sich nicht gleich hauseigene Autor:innen leisten möchten: Relativ einfach lassen sich Geschichten in Form von Tagebucheinträgen aus der Zukunft erschaffen. Für jedes entwickelte Szenario erstellt man einen Tagebucheintrag. Durch eine detaillierte Beschreibung alltäglicher Erlebnisse und Herausforderungen aus der Perspektive einer Person werden zunächst abstrakte Zukunftsideen für uns lebendig und konkret, und der Aneignungsprozess von Szenarien dadurch leichter. Tagebucheinträge kann man in Textform bereitstellen, oder mit etwas mehr Ressourcen natürlich auch als Film oder Audio produzieren.

2. Interaktion: Mit Zukunftsdingen interagieren

Eine andere Möglichkeit, um Zukünftiges im wahrsten Sinne des Wortes greifbar zu machen, ist die Entwicklung von Zukunftsprototypen. Ein Zukunftsprototyp könnte im Kontext von Gesundheit beispielsweise eine umgestaltete Zahnpastatube sein, die verspricht, bei täglicher Benutzung das Erinnerungsvermögen zu stärken. Durch die Interaktion mit solchen fiktiven Gegenständen wird Zukunft real. Dazu fragen wir uns: Welches noch nicht existierende Produkt oder welcher Service bringt die Knackpunkte, wichtigen Fragestellungen und vielleicht auch Polaritäten eines Zukunftsszenarios auf den Punkt? Und wie können wir es Realität werden lassen, so dass unsere Zielgruppe damit interagieren und experimentieren kann?

Bei der Entwicklung eines Zukunftsprototypen gibt es zwei Dinge, die erfüllt sein sollten: Erstens sollte der Prototyp und das Szenario, in dem dieser eingebettet ist, einen Zusammenhang zu gegenwärtigen Entwicklungen aufweisen, um aus Sicht des Betrachtenden glaubwürdig zu erscheinen. Zweitens sollte der Zukunftsprototyp zum Nachdenken anregen und eine Debatte auslösen, die dazu anstiftet, über wünschbare und vermeidbare Zukunftszustände und Entwicklungen, sowie persönliche Veränderungsmotivationen zu reflektieren.

Sind Kohärenz und Diskutierbarkeit gegeben, kann die Konfrontation und Interaktion mit anfassbaren Zukunftsprototypen, die Aneignung von und Auseinandersetzung mit Zukünften und Szenarien erleichtern. Ein Beispiel für die partizipative Arbeit von zero360 mit dem Zukunftsprototypen „Call Your Granny“ beschreibt dieser Blogbeitrag (https://zero360.de/blog/einmal-zukunft-und-zurueck/ ).

3. Immersion: In Zukunftswelten eintauchen

Noch eindrücklicher als die Rezeption von Geschichten und die Interaktion mit Gegenständen kann die tatsächliche Immersion in Zukunftswelten sein. Indem man für eine Zielgruppe eine eindrucksvolle, erlebbare Erfahrung schafft, kann man tiefere emotionale und kognitive Reaktionen hervorrufen und somit die Reflexion über mögliche Zukünfte fördern. Da Interventionen dieser Art tief in das menschliche Erleben und Empfinden eingreifen können, ist es wichtig, diese sorgfältig und verantwortungsvoll zu gestalten. Das umfasst Fragen der Repräsentation, der Zustimmung und der potenziellen Auswirkungen auf die Teilnehmenden.

Wie setzt man diese um? Auf der Hand liegen immersive Technologien wie VR und AR, die es ermöglichen, in mögliche Zukünfte einzutauchen und diese hautnah zu erleben. Doch auch im realen Raum lassen sich durch Installationen, Performance- und Kunstelemente erlebbare Welten schaffen. Ein Beispiel hierfür ist eine immersive Installation des Londoner Design Studios Superflux, die während der New York Climate Week 2023 präsentiert wurde. In einem Raum, der an die jüngsten Waldbrände erinnerte, wurden die Teilnehmenden mit Geräuschen, Gerüchen und visuellen Eindrücken konfrontiert, die die aktuellen Krisen verdeutlichten. Anschließend zeigte eine 360-Grad-Projektion ein wünschenswertes Szenario von New York im Jahr 2050, in dem die Stadt sich an den Klimawandel angepasst und neue Lebensweisen und nachhaltige Technologien integriert hat. Hier hört man Kojoten heulen, Batteriewände brummen, Wellen plätschern – man riecht Pilze, Moos und neue Brennstoffe wie Ethanol und Maisöl – man schmeckt Haskap-Beeren, Sake aus lokal angebautem Reis, Papaya aus Turmplantagen und Kochbananen.

Doch auch mit weniger Aufwand lassen sich schon kleine Zukunftserfahrungen schaffen. Beispielsweise durch die Simulation einer Pressekonferenz, die als Rollenspiel ausgerichtet wird. Oder die Produktion von Nachrichtensendungen aus der Zukunft, die mit Hilfe von KI-Tools erstellt und einem Publikum präsentiert werden.

All diese Mittel helfen, um unsere kollektive imaginäre Praxis zu stärken und die Aneignung von und Auseinandersetzung mit dem Möglichkeitsraum der Zukunft für eine breite Zielgruppe zu fördern. Die Vorstellungskraft ist ein wesentliches Werkzeug, um neue Möglichkeiten und Wege zu erkunden und bestehende Probleme anzugehen und zu lösen. Wenn Menschen spüren, dass positive Zukünfte möglich und plausibel sind, werden sie diese auch verwirklichen. Oder wie Bell Hooks sagt: „To be truly visionary we have to root our imagination in our concrete reality while simultaneously imagining possibilities beyond that reality”.

Verfasst von:

Cornelia Tocha

Cornelia bewegt sich am liebsten an den Schnittstellen von Disziplinen, Themen und Ansätzen. Ihr interdisziplinärerer Hintergrund in Germanistik, BWL und Design hilft ihr, verschiedenste Perspektiv-Brillen aufzusetzen, genau hinzuhören und mit anderen in partizipativen Formaten zukünftige Welten zu erforschen. Cornelia will wissen: Was müssen wir heute tun, um morgen wünschenswerte, verantwortliche und nachhaltige Lösungen parat zu haben?

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