Transformation

Vom Tauchen mit Haien und dem Umgang mit Unsicherheit

Wie wir uns der Unsicherheit stellen und von ihr lernen können

Diverse Autor*innen
Dezember 13, 2021
6min Lesezeit

In unserem bekannten und vertrauten Umfeld – egal, ob privat oder beruflich – haben wir uns gut eingerichtet, haben unsere Expertise ausgebaut und wissen, was wir tun. Diese sogenannte Komfortzone fühlt sich zwar gut an, aber in Zeiten der Veränderung ist es wichtig, sich auch bewusst aus dieser herauszuwagen und Strategien zu entwickeln, um mit Unsicherheiten positiv umzugehen. Unsere Kollegin Nadja Krombach nimmt uns mit in einen ihrer unsichersten Momente und zeigt uns, was sie im Umgang mit Unsicherheiten aus ihrem Tauchgang mit Haien gelernt hat.  

Der größte Anteil meiner derzeitigen Arbeit findet im Kontext von Veränderung statt, in Transformationen, mit neuen Prozessen, Arbeitsweisen oder Teamstrukturen. Dabei wird den Betroffenen sehr viel abverlangt und nicht selten stehen sie mit ihrem Gefühl von Unsicherheit allein da. 

Was macht Unsicherheit mit uns Menschen? Sie ist erst einmal ungemütlich, vielleicht sogar feindlich, und bringt unsere Welt ins Wanken. Sie macht uns nervös, verletzlich, mürrisch. Wir neigen dazu, Dinge zu verdrängen, Entscheidungen zu vertagen, hartnäckig in gewohnten Mustern zu verharren. Alles, was wir bereits kennen und können, unser gewohntes Territorium, erscheint uns besser, komfortabler und produktiver. 

Wenn Unsicherheit konkret wird 

Mich interessiert besonders der Moment des unmittelbaren „Kontakts“ der Menschen mit der veränderten Umgebung. Wie geht es ihnen in diesem Augenblick, von dem an sie anders arbeiten oder sich anders verhalten sollen?  

Wie verhalte ich mich „agil“? Wozu führt das, wenn ich ab morgen meine Vorgesetzten duzen soll? Was bedeutet das für meine Position, wenn meine Abteilung neu aufgestellt wird und ich deshalb neue Kolleg:innen und Vorgesetzte habe? Wie gehe ich mit neuen, digitalen Werkzeugen um?  

Was macht das alles mit mir und wie gehe ich mit diesen Gefühlen um?  

Werden diese Unsicherheiten von irgendjemandem wahrgenommen oder gar berücksichtigt? Werden sie als Schwäche interpretiert oder als Teil eines natürlichen (Lern-)Prozesses gesehen? 


Mit den Haien tauchen 

Ich hatte vor etwa zwei Jahren ein Erlebnis, das für mich zu einer Metapher für meinen Umgang mit Unsicherheit geworden ist: 

Gemeinsam mit dem mittlerweile verstorbenen Haiforscher Dr. Erich Ritter und anderen Taucher:innen besuchte ich ein Gebiet auf den Bahamas, das für seine Vielfalt an Haiarten bekannt ist: Ammenhaie, Zitronenhaie, karibische Riffhaie, Bullenhaie, Tigerhaie und Hammerhaie – all diese Arten kann man dort gleichzeitig beobachten. 

Als ich am ersten Morgen in dem Tauchgebiet aufwachte und auf das Wasser blickte, war mein erster Gedanke: „Was habe ich mir bloß dabei gedacht?“ Rund um das Schiff, an und unter der Wasseroberfläche, wimmelte es von Haien.  

Ich tauche zwar schon seit vielen Jahren, aber dieser Anblick war für mich neu – und durchaus bedrohlich.  

Wir alle kennen Bilder, Videos und Filme, die Haie als aggressive, blutrünstige Killer darstellen. Dass diese Darstellungen sehr medienwirksam, aber unehrlich sind, war mir klar. Deshalb war ich hier.  

Dennoch war ich verunsichert. Sollte man da wirklich mitten hineintauchen? Ist das nicht fahrlässig? Bin ich lebensmüde? Muss ich mir oder irgendjemand anderem etwas beweisen und begebe mich vorsätzlich in eine lebensbedrohliche Situation? Immerhin hatte ich mich dieser Erfahrung freiwillig ausgesetzt.  

Dann kamen Gedanken wie: „Kann ich noch einen Rückzieher machen?“, „Verweigere ich mich dem einfach?“, „Sollen die anderen doch vorgehen!“, „Was könnte im schlimmsten Fall passieren (ehrlich gesagt einiges Ernstzunehmendes)?“. 

Ich dachte aber auch: „Was kann ich aus dieser Situation gewinnen?“, „Welche völlig neue Erfahrung kann ich machen?“, „Wie wird mich dieser Tag verändern?“, „Was nehme ich mit nach Hause?“. 


Unsicherheit und der Wunsch nach Bekanntem 

Mein Verstand setzte langsam wieder ein. Ich machte mir bewusst: Ich bin nicht allein, sondern in Begleitung erfahrener Dive Masters, die alle schon jahrelange Erfahrung im Tauchen mit Haien hatten. Ganz ohne Risiko war die Situation zwar nicht, aber die vollkommene Sicherheit kann mir schließlich niemand geben, nirgendwo.  

Für die nächsten Schritte gab es klare Vorgaben: vorwärts ins Wasser springen, uns sofort umschauen und einen Überblick über die Tiere verschaffen. Besonders die Bullen- und Tigerhaie sollten wir im Blick behalten und ihnen möglichst nicht den Rücken zukehren. Eine Leine reichte vom Boot bis zum Grund, an der wir uns bei Bedarf festhalten konnten. Das Wasser war nicht tief, zwischen fünf und 15 Meter, mit schneeweißem Sand, guter Sicht und fast keinem Bewuchs.  

Unser Ziel war es, uns am Grund zu sammeln, in einer bestimmten Formation zu sitzen, um so diese prächtigen Tiere zu beobachten. 

Dann kam die Konfrontation mit der Unsicherheit – der Moment des Hineinspringens. Ich sehe fast nichts, weil das Wasser um mich herum schäumt und voller Blasen ist, der erste, noch aufgeregte Atemzug unter Wasser. Kann ich mich auf meine Ausrüstung verlassen? Ich dringe in das Territorium der Haie ein, ich bin hier der Fremdkörper.  

Ich schaue mich um, sichte einige Bullenhaie, zwischen einem und zwei Meter lang und kompakt, bullig, wie Torpedos. Sie sind nicht sehr weit entfernt, innerhalb von Sekunden könnten sie bei mir sein. Weiter weg kreisen fünf oder sechs Tigerhaie. Sie sind definitiv größer, eher zwischen zweieinhalb und dreieinhalb Metern Länge, und sehr Respekt einflößend!  

Ich gleite an der Leine herab und drehe meinen Kopf unentwegt in alle Richtungen. Die alle soll ich im Blick behalten, hatte unser Dive Master gesagt. 


Routine zurückgewinnen 

Dann, trotz der Nervosität, setzt das Gefühl ein, das ich am Tauchen so liebe: mit Schwerelosigkeit in diesem dreidimensionalen Raum zu schweben. Mein Atem wird langsam ruhiger und ich spüre ein ganz kleines bisschen Bestätigung, ich schaffe das! Ich verfalle nicht in Panik, ich bin nervös, aber auch sehr neugierig. Alle meine Sinne sind aktiv und ich nehme keine Aggression seitens der Haie wahr. 

Der erste Teil war vollbracht, meine Tauchpartnerin und ich haben es bis zum Grund und zu den anderen geschafft. Wir lassen uns nieder, sitzen still auf unseren Knien im Sand, erst einmal tief durchatmen!  

Jetzt beginnt eine neue Phase der Beobachtung und geschärften Wahrnehmung.  

Wir sitzen in einer V-Formation und die Haie kommen wieder und wieder wie in einer Einflugschneise über die offene Seite des V auf uns zu geschwommen. Die Tigerhaie scheinen die Priorität zu haben. Vielleicht schenke ich ihnen aber auch nur die größte Aufmerksamkeit: „Size does matter!“ Die meisten sind trächtige Weibchen, die sehr bald um die 70 lebende Jungen zur Welt bringen werden. Vielleicht bewegen sie sich deshalb eher gemächlich. 

Die Haie kreisen um uns herum und schwimmen zwischen uns hindurch. Ich versuche, nicht zu hyperventilieren, meine Atemluft soll so lange wie möglich halten. Vereinzelte Tiere kommen uns sehr nah, so nah, dass ich sie berühren könnte. Was für eine aberwitzige Idee! Wie reagiert ein Hai auf Berührung? Vermutlich nicht wie meine Katzen. Ich lasse von dem Gedanken ab. 

Plötzlich bekommen wir ein Signal von einem der Dive Master und ehe wir es uns versehen, ist plötzlich ein Hammerhai unter den anderen. Dieses Tier übertrifft die anderen Haie nicht nur in ihrer Größe, es bringt auch ein ganz anderes Temperament mit. Es schießt mit einer Energie in die Einflugschneise, die mein eben gefundenes bisschen Sicherheit direkt wieder zunichtemacht. Worauf kann ich mich besinnen, was gibt mir Stabilität? In dem Moment hilft mir der Gedanke, dass trotz des Gerangels unter den Haien nicht ich das Zentrum von deren Aufmerksamkeit bin, dass sie es offensichtlich nicht auf mich oder meine Tauchpartner:innen abgesehen haben. Das hilft. Ruhig atmen! 


Der Unsicherheit ins Auge blicken 

In den folgenden Tagen taten wir fast nichts anderes, als diese Geschöpfe zu beobachten, meistens still am Grund sitzend. Das war sehr meditativ und wunderschön. Ich wurde dieser Ansicht in keinem Moment überdrüssig.  

Wir achteten aber immer darauf, was hinter unserem Rücken geschah.  

Mit der Zeit ließen sich Muster erkennen, charakteristische Verhaltensweisen einzelner Haie. Die Crew kannte viele der Tiere schon seit Jahren, wir begegneten 13 Tigerhai-Damen mit Namen. Man erkannte sie an ihrer individuellen Zeichnung, an Narben oder auch an Angelhaken, die sie als Folge der Interaktionen mit Menschen im Mundwinkel oder an den Flossen mit sich zogen. 

Im Laufe der Tage gab es tatsächlich auch Berührungen. Wenn mal wieder Gerangel in der Einflugschneise herrschte, kam es immer wieder vor, dass ein Hai direkt auf uns zuschwamm. Beim ersten Mal blieb mir die Luft weg. Ich sah der (potenziellen) Gefahr direkt ins Auge und fragte mich „Himmel, was tue ich jetzt?“. Mir fiel in dem Moment auf, Tigerhaie haben blaue Augen, und dieser schaute mir direkt in die Augen.  

Einen Zusammenstoß wollte ich vermeiden, vielleicht würde das Tier sich dann aufregen und mich doch angreifen. Ich saß noch auf meinen Knien, rückte ein Stück seitwärts, hob beide Handflächen in Brusthöhte, senkrecht, Handflächen in Richtung Hai. Dieser berührte meine Handflächen ganz leicht mit der Schnauze und seiner gesamten Seite und drehte seitwärts ab. 

In dem Moment hatte ich mich auf etwas besonnen, was mir ebenfalls schon bekannt war. Ich praktiziere Aikido und das Prinzip von Aikido besteht darin, die auf einen zukommende Energie aufzunehmen und zum eigenen Vorteil umzuleiten. Das war mir in dem Moment gelungen und gab mir ein Gefühl von Zuversicht. Ich hatte jetzt etwas in mein Repertoire aufgenommen beziehungsweise wiederentdeckt, das mein Gefühl von Unsicherheit verringerte.


Die eigenen Grenzen kennenlernen  

Es gab aber auch Momente der Angst, die ich nicht ganz überwinden konnte. Wir befanden uns auf einem Nachttauchgang an einem Riff mit außerordentlicher Strömung, an dem uns vormittags die temperamentvolle Hammerhai-Dame „Queen“ mit einer beeindruckenden Körperlänge von über vier Meter plötzlich überrascht hatte. Dem Gedanken, im Dunkeln bei sehr starker Strömung während meines Sicherheitsstopps (drei Minuten in fünf Meter Tiefe) auf offenem Ozean vom Boot wegzutreiben, mit Haien in Jagdlaune unter mir, konnte ich gar nichts abgewinnen und brach den Tauchgang mit meiner Tauchpartnerin nach 20 Minuten ohne Sicherheitsstopp ab. Da hörte ich auf meinen gesunden Menschenverstand. 


Was Unternehmen daraus lernen können 

Veränderung beginnt bei einem selbst. Das sagt sich so einfach. Mitarbeitende setzen sich Veränderungen in ihren Unternehmen nicht unbedingt freiwillig aus. Sie sind ihnen meist unterworfen. Sie brauchen Strategien und Unterstützung für den Umgang mit ihrer Unsicherheit. Die Verantwortung dafür sehe ich unter anderem bei den Führungskräften. 

Es gibt keine Rezepte für die Bewältigung individueller Ängste der Betroffenen, aber man kann ihnen Raum geben und sie ernst nehmen. Gemeinsam lässt sich herausarbeiten, welche vorhandenen Ressourcen sie einsetzen können oder welche sie benötigen, auf welche vorhandenen Stärken sie sich besinnen und worin sie befähigt werden können. 

Ich gehe davon aus, nur wenn wir Mitarbeitende angemessen unterstützen, können wir sie auch für ein Vorhaben gewinnen. 

Folgende Fragen können helfen, sich die Unsicherheit und die eigenen Handlungsoptionen bewusster zu machen: 

  • Was ist die Quelle meiner Unsicherheit und warum macht mich das unsicher? 
  • Was könnte im schlimmsten Fall passieren? 
  • Was kann ich aus dieser Situation gewinnen? 
  • Was gibt mir Sicherheit? 
  • Welche Situationen kommen mir in den Sinn, die ich bereits erlebt habe? Wie habe ich dort gehandelt? 
  • Wo sind meine Grenzen? 
  • Wen kann ich um Hilfe bitten? 
  • Welche völlig neue Erfahrung kann ich machen? 
  • Wie wird mich diese Situation verändern, wenn ich sie bewältigt habe? 


Was die Haie betrifft, so wurde weder Mensch noch Tier verletzt. Ich hatte die große Ehre, diesen majestätischen Tieren sehr nahe zu kommen und mit ihnen Blickkontakt aufzubauen, was mich persönlich sehr berührt und nachhaltig verändert hat. Ich machte ganz körperliche Erfahrungen, wonach ich als Ausgleich zu meinem sehr digitalen Arbeitsumfeld gesucht hatte. Mit nach Hause genommen habe ich, dass in mir Stärken liegen, die ich einsetzen kann, aber auch, dass mein Mut Grenzen hat. Wichtig war mir das Vertrauen in die Crew. Ich habe mich nicht gescheut, um Hilfe zu bitten, als ich sie brauchte.  

Eine Erkenntnis hat sich bestätigt, dass Neugier einer meiner stärksten Treiber ist, die dazu führt, dass ich Neuem immer auch etwas Gutes abgewinnen und mich weiterentwickeln kann.  

Steht auch deine Organisation vor der Herausforderung, durch unsichere Situationen zu navigieren? Dann melde dich gerne bei uns: hello@zero360.de 

Danke an Marcel Wilpernig für die Fotoaufnahmen! 

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