Zielbilder stehen am Anfang jeder Veränderung. Ohne eine klare Vorstellung davon, wo eine Organisation, ein Bereich, eine Abteilung oder ein Team in Zukunft sein möchte, ist motiviertes und sinnvolles Handeln kaum denkbar.
Wenn eine Organisation die Umsetzung ihres Zielbildes startet, beginnt eine Reise mit vielen Unbekannten. Vieles wird auf dieser Reise passieren, was niemand vorhergesehen hat, und die Kunst besteht darin, mit den erwarteten und unerwarteten Ereignissen klug umzugehen. In der Regel werden wir uns eingestehen müssen, dass unsere Annahmen nicht ganz richtig waren, dass wir Dinge falsch eingeschätzt oder schlicht nicht antizipiert haben. Das ist nicht schlimm, sondern normal. Schlimm wird es erst dann, wenn wir nicht aus unseren Erfahrungen lernen und weder unsere Maßnahmen noch unsere Ziele an veränderte Rahmenbedingungen anpassen.
Damit das gelingt, brauchen wir die Fähigkeit, Feedback zu geben und mit auftretenden Konflikten konstruktiv umzugehen. Beides ist in Lern- und Veränderungsprozessen unabdingbar.
“Eigentlich“ wissen wir das. Aber warum fällt es uns trotzdem so schwer?
Warum wir Konflikte vermeiden und warum das nicht hilft
Wir wollen niemanden verletzen, die Harmonie nicht stören, vielleicht fällt es uns schwer zuzugeben, dass wir etwas falsch eingeschätzt haben oder wir wollen nicht als „böse“ Person wahrgenommen werden, die andere kritisiert. Vielleicht wissen wir auch gar nicht, wie wir mit der Situation umgehen sollen, wenn wir die Büchse der Pandora erst einmal geöffnet haben.
Im Kern geht es aber um eines: Wir haben Angst. Und was tun wir, wenn wir Angst haben? Wir gehen ihr aus dem Weg. Das heißt in diesem Fall: Wir vermeiden Feedback und gehen dem Konflikt aus dem Weg. Damit lösen wir ihn aber nicht. Im Gegenteil. Die Probleme werden immer größer.
Vermeiden ist also keine Lösung. Wie gut, dass die Psychologie noch eine andere Möglichkeit kennt, mit Angst umzugehen: Wir können unsere Einstellung zum Gegenstand unserer Angst ändern. Und hier gibt es gleich mehrere gute Nachrichten in Bezug auf Konflikte.
Die erste gute Nachricht:
Konflikte sind normal – insbesondere in Veränderungsprozessen, in denen wir es mit vielen unbekannten Parametern zu tun haben und außerhalb unserer Komfortzone in der Lernzone agieren. Wir befinden uns also per se in einer angespannten Situation, fühlen uns unsicher und empfinden Konflikte aufgrund dieser Unsicherheit oft als bedrohlich.
Wenn Bedürfnisse aufeinander prallen
Ein Konflikt entsteht oft aus einem Spannungsfeld zwischen Bedürfnissen, Wünschen, Werten oder auch Zielen. Wenn diese nicht miteinander vereinbar sind, empfinden wir das als Spannung. Und das ist oft sehr unangenehm.
Als Einzelperson fällt es uns nicht immer leicht, unsere eigenen intrapersonellen Spannungen zu lösen, aber wenn sich zwei oder mehr Personen gegenüberstehen und widersprüchliche Sichtweisen aufeinandertreffen, ist es eine noch viel größere Herausforderung, die Situation zu ent-spannen. In Teams, Abteilungen, Bereichen und Organisationen scheint sie manchmal unlösbar. Wenn wir uns aber bewusst machen, dass Konflikte normal sind und nicht aus böser Absicht entstehen, können wir ihnen deutlich gelassener begegnen.
Warum Konflikte unvermeidlich sind: ein kurzer Blick auf den Konstruktivismus
Doch was ist schon “normal”?
Menschen haben in ihrem Leben unterschiedliche Erfahrungen gemacht, die zu unterschiedlichen Prägungen, Werten und Bedürfnissen führen. Diese wirken wie ein Filter, durch den wir die Welt betrachten. Die Bilder, die wir uns von Situationen machen, sind nicht die absolute Realität, sondern das Ergebnis unserer individuellen Interpretation. Sie sind unsere persönliche Wahrheit.
Unsere subjektive Sichtweise ist eher interessant als problematisch, und erst wenn zwei Menschen die gleiche Situation unterschiedlich bewerten, kann es zu einem Konflikt kommen. In Organisationen geschieht dies umso häufiger, da Menschen aus mehreren Teams, Abteilungen und Bereichen mit unterschiedlichen, manchmal gegensätzlichen Prioritäten und Zielen zusammenarbeiten. Ein gutes Zielbild kann solche Konflikte übrigens reduzieren oder gar vermeiden.
Es ist also menschlich und fast unvermeidlich, dass wir unterschiedliche Sichtweisen auf ein und dieselbe Sache haben, und die Frage nach unseren Zielen und Erwartungen ist ein sinnvoller erster Schritt, um diese Sichtweisen in Einklang zu bringen. Darüber hinaus hilft z.B. das Eisbergmodell bei der Suche nach den tieferen Ursachen von Konfliktsituationen – nicht selten sind widersprüchliche Bedürfnisse oder Wertvorstellungen dafür verantwortlich, dass wir uns in die Haare geraten.
Ganzheitlicher Umgang mit Konflikten in Organisationen
Wenn Konflikte das gesamte System der Organisation betreffen, lohnt sich ein ganzheitlicher Blick. Oft sind Strukturen und Prozesse dafür verantwortlich, dass Menschen miteinander in Konflikt geraten, aber auch unklare Rollen, ungenaue Aufträge, suboptimale Kommunikation, unterschiedliche Prioritäten, mangelnde Ressourcen usw.
Gelingt es nicht, die Dinge auf der Sachebene zu klären, verstrickt man sich schnell in einen Streit über diese Unklarheiten und gerät in einen zwischenmenschlichen Konflikt. Die Emotionen kochen hoch und die Verletzungen auf der persönlichen Ebene erschweren zunehmend eine Lösung.
Daher der Appell, möglichst frühzeitig die Sachebene zu bearbeiten. Nicht nur, um Konflikte auf der zwischenmenschlichen Ebene im Keim zu ersticken, sondern auch, um die Chance zu nutzen, die im Konflikt schlummert.
Eine Chance im Konflikt?
Ja durchaus!
Das ist die zweite gute Nachricht:
Konflikte sind normal, menschlich und wertvoll für Organisationen, weil sie Entwicklung und Wachstum fördern.
Konflikte als Katalysator für Entwicklung und Wachstum – das gilt in besonderem Maß für Unternehmen… Jede Innovation, jeder Fortschritt ist aus einem Konflikt hervorgegangen… Wenn Sie wirklich Energie im Unternehmen freisetzen wollen, dann dürfen Sie Konflikte nicht zudecken, sondern müssen sie aufdecken. Mehr noch: Anfachen.
Reinhard K. Sprenger – Die Magie des Konflikts
Die richtige Haltung im Umgang mit Konflikten
Es gibt noch eine dritte gute Nachricht:
Unsere Haltung als Person und die Art und Weise, wie wir auf unser Gegenüber zugehen, haben einen entscheidenden Einfluss auf den Erfolg unseres Feedbacks.
Schauen wir uns zunächst die weniger schöne Seite der Haltung an: Viele haben den Impuls, nach Ursachen und Schuldigen zu suchen. Die Ursachen eines Konflikts zu verstehen, kann helfen, es in Zukunft besser zu machen. Oft ist es aber gar nicht so einfach, die wirklichen Ursachen zu entlarven. Das gilt auch für die vermeintlich Schuldigen.
Wer jemals ein Buch von Ferdinand von Schirach gelesen hat, weiß, dass die Schuldfrage oft nicht eindeutig zu klären ist. Und wenn man die ganze Geschichte kennt, hat man manchmal sogar Mitleid mit dem Täter, weil die Umstände und Hintergründe oft komplex und menschlich nachvollziehbar sind, so dass moralische Urteile hier oft schwerfallen.
Schuld ist der Versuch, die Dinge zu vereinfachen. Aber in einer komplexen Welt und in Organisationen (die als soziale Systeme und damit als komplex betrachtet werden) gibt es in der Regel nicht die oder den Schuldige:n. Es sei denn, jemand hat tatsächlich das Tafelsilber gestohlen (und selbst dafür gibt es in der Regel relevante Ursachen).
Ein weiterer Aspekt, der mich am Thema Schuld stört:
Wenn wir im Schuldmodus sind, zeigen wir mit dem Finger auf jemanden. Das stellt die Person bloß und bringt sie in die Defensive. Man selbst erhebt sich dadurch auf eine erhöhte Position und impliziert, dass man die Situation besser kennt als die anderen. Das ist ein gefährliches Spiel.
Der destruktive Umgang mit Konflikt resultiert aus der insgeheimen Übereinkunft, dass es nur eine Rationalität gibt! Die eigene.
Reinhard K. Sprenger
Die Bedeutung des Perspektivenwechsels
Darüber haben wir bereits gesprochen: Jeder hat seine eigene Sicht auf eine Situation, seine eigene subjektive Wahrheit.
Hier sind wir also gefordert, uns für den Konstruktivismus zu begeistern, d.h. unsere eigene Sicht der Dinge nur als eine Möglichkeit zu betrachten und zusätzlich (mindestens) die Perspektive unseres Gegenübers einzunehmen. Wo steht diese Person? Wie ist ihre Situation? Und vor allem: Wie schätzt sie die Situation ein und warum kommt sie zu der Einschätzung, die Sie so auf die Palme bringt? Und warum genau regt Sie das auf? Selbstreflexion hilft, den eigenen Anteil an einer Situation zu erkennen.
Die Ursachen zu kennen und zu verstehen kann hilfreich sein, aber:
„Problem talk generates problems.“ Das Reden über Probleme erzeugt Probleme, und dann fehlt die Zeit, sich mit der Lösung zu beschäftigen.
Besser ist es zu fragen:
“Was brauchst du, um deine Arbeit in Zukunft richtig gut zu machen?”
Dies entspricht einem lösungsorientierten Ansatz und spiegelt die Haltung einer modernen Führungskraft wider.
Generell ist es besser, Fragen zu stellen, als dem oder der Feedbackempfänger:in die eigene Sicht auf die Situation vermitteln zu wollen. Fragen können helfen, ein gemeinsames Verständnis der Situation zu entwickeln. Ziel sollte es sein, dass sich die Feedbacknehmerin oder der Feedbacknehmer verstanden und nicht verurteilt fühlt und dass die Situation gemeinsam interpretiert und eingeordnet werden kann.
Fassen wir die ersten beiden Prinzipien einer konstruktiven Haltung im Kontext der Konfliktlösung zusammen:
- Wir konzentrieren uns auf die Lösung, nicht auf das Problem.
- Wir zeigen aktives Interesse an unserem Gegenüber, um ihre oder seine Perspektive zu verstehen.
Das „Wir“ und nicht das „Ich“
Hier noch ein drittes Prinzip:
Wer nur seine eigene Sicht der Dinge sieht, wird sein Gegenüber eher als Feind und Verhinderer seiner Sache wahrnehmen – und entsprechend kommunizieren. Die Wir-Perspektive löst die Konfrontation im besten Fall auf. Das „Wir“ erinnert daran, dass es nicht um die Durchsetzung von Einzelinteressen geht, sondern um etwas Größeres, um das Erreichen eines gemeinsamen Ziels – nichts verbindet Menschen mehr als eine gemeinsame Sache.
Wertschätzung des Gegenübers
Und schließlich noch ein viertes und letztes Prinzip:
Wenn das tatsächlich stimmt, und wenn wir diese Person in ihrem Kontext respektieren, und auch noch das „Wir“ höher bewerten als unser eigenes Ego, dann können wir gutes Feedback geben. Gut heißt hier: Feedback, das unser Gegenüber annehmen kann – und bei dem nicht die Rollläden runtergehen, weil das Gefühl von Dominanz, Manipulation oder Ungerechtigkeit mitschwingt.
Und hier komme ich auf das Wort der Spannung zurück: Spannung bedeutet Energie. Aus Spannung entsteht die Energie, einen Konflikt, ein Problem, einen vermeintlichen Widerspruch zu lösen – manchmal gelingt ein Kompromiss, manchmal heißt es zumindest für kurze Zeit, sowohl als auch! Und manchmal hat man Glück oder arbeitet hart daran, aus einer These und ihrer Antithese eine Synthese zu schaffen. Das ist echter Fortschritt – für jede:n Einzelne:n, für Teams, Abteilungen und die ganze Organisation. Und vielleicht sogar für unsere Kund:innen.
Abschließend möchten wir daran erinnern, dass Feedback und Konflikte nicht als Hindernisse, sondern als Chancen gesehen werden sollten. Sie bieten uns die Möglichkeit, unsere eigenen Grenzen zu erkennen und zu überwinden und die Dynamiken innerhalb unserer Organisation besser zu verstehen und zu verbessern. Wenn wir lernen, Konflikte als natürlichen Bestandteil unserer täglichen Arbeit zu akzeptieren und konstruktiv damit umzugehen, können wir Wachstum und Innovation fördern.
Die Fähigkeit, Feedback zu geben und Konflikte konstruktiv zu lösen, ist nicht nur ein Zeichen von Professionalität, sondern auch von menschlicher Reife. Es erfordert Mut, Offenheit und Einfühlungsvermögen, die Perspektiven anderer anzuerkennen und wertzuschätzen. Letztlich geht es darum, ein Arbeitsumfeld zu schaffen, in dem sich alle sicher fühlen, ihre Meinung zu äußern und an der gemeinsamen Vision mitzuwirken.
Indem wir Feedback und Konflikte aktiv annehmen und als Lernchancen begreifen, können wir nicht nur unsere individuellen Fähigkeiten stärken, sondern auch die kollektive Intelligenz unserer Organisation nutzen.
In diesem Sinne sollten wir uns ermutigen lassen, Konflikten nicht aus dem Weg zu gehen, sondern sie als Katalysatoren für positive Veränderungen zu sehen.
Verfasst von:
Barbara Posern