Unzählige Marmeladensorten im Supermarkt. Produktivitäts-Apps, die wie Pilze aus dem Boden sprießen. Reiseportale, die sich mit auffälligen Werbespots gegenseitig überbieten wollen. Nutzende haben heute die Möglichkeit sich für das Produkt oder den Service zu entscheiden, der neben Preis, Markenauftritt und vielen weiteren Kriterien die beste Nutzungserfahrung bietet. Und die soll bitte personalisiert und nahtlos sein.
Eine spannende Zeit, um User Research zu betreiben und als Verantwortliche:r von Forschungsprojekten tätig zu sein.
Um eine solche Nutzungserfahrung zu gestalten, benötigen Teams und Organisationen ein gutes Bild der Bedürfnisse ihrer Nutzer:innen, um den Erwartungen der Zielgruppe zu entsprechen. Und genau hier kommt User Research ins Spiel. Über verschiedene Methoden wird wertvolles Feedback gesammelt, sichergestellt, dass Produkte und Services benutzerfreundlich gestaltet sind und Designentscheidungen getroffen, die auf tatsächlichen Erkenntnissen über Nutzer:innen basieren, und nicht nur auf Vermutungen und Annahmen. Kosten und Risiken in der Produkt- oder Servicegestaltung werden reduziert, da Probleme erkannt und gelöst, bevor Produkte, Services oder ganze Geschäftsmodelle auf den Markt kommen.
Obwohl User Research in Zeiten von fragmentierten Zielgruppen eine wichtige Rolle einnimmt, gibt es immer wieder Missverständnisse darüber, wie man ein Verständnis für die Nutzer:innen und ihre Bedürfnisse erlangen kann und was es bedeutet, User Research zu betreiben. In diesem Beitrag möchte ich die häufigsten und weit verbreitetsten Mythen und Missverständnisse rund um das Thema User Research erklären und ausräumen.
1. User Research ist teuer und zeitaufwendig
Im Laufe der Entmystifizierung von Stereotypen wird es immer wieder zum beliebten „es kommt drauf an…“ kommen. In diesem Fall kommt es auf die Fragestellung an, die untersucht wird. Wenn es darum geht sich als Organisation ein allgemeines Bild von Nutzenden zu machen, kann eine Grundlagenstudie teuer und zeitaufwendig sein, was sich in den meisten Fällen aber auch lohnt.
Es gibt aber auch einfache, schnelle und kostengünstige Methoden, um Feedback oder neue Ideen für Produkt- und Serviceinnovationen zu erhalten. Ein beliebtes Tool sind Online-Umfragen, die allerdings gut gestaltet sein müssen, um die notwendigen Erkenntnisse zu produzieren. Über einfach organisierte Konzepttests können erste Gedanken und Gefühle von Nutzenden in der Serviceinteraktion eingefangen werden. Ein konkretes Beispiel hierfür ist die Umgestaltung der eigenen Webseite. Über eine Card-Sorting Übung kann herausgefunden werden, wie Nutzende die Webseite organisieren und welche Inhalte sie wo erwarten. Diese Übung ist in wenigen Stunden abgeschlossen und nicht kostenintensiv, liefert aber trotzdem wertvolle Erkenntnisse. Wichtig ist festzulegen, für welche Fragen mehr Budget und Zeit bereitgestellt werden sollte, und wo es angebracht ist schnelles Feedback für Ideen einzuforder.
2. User Research ist nur für digitale Produkte relevant
Auch Gestalter:innen von analogen Erfahrungen benötigen ein gutes Bild ihrer Zielgruppe und müssen sich ein Verständnis der Bedürfnisse und Herausforderungen von Nutzenden erarbeiten, um Optimierungen zu identifizieren und umzusetzen. User Research hilft also auch bei der Gestaltung physischer Produkte, indem zum Beispiel vertestet wird, ob diese nutzbar sind. Genauso könnte User Research dabei helfen, Erkenntnisse für die Gestaltung öffentlicher Räume oder Gebäude, wie zum Beispiel auch Büroflächen, bereitzustellen. Über User Research können wir verstehen, welche Rolle Büroflächen für Mitarbeitende spielen und wie diese Erfahrung gezielt verbessert werden kann.
Außerdem untersucht User Research Erfahrungen ganzheitlich. Das bedeutet, dass Erfahrungen selten isoliert im digitalen Raum stattfinden. Wenn wir uns die Buchung einer Urlaubsunterkunft anschauen, ist selbst die Anfahrtsbeschreibung Teil der Erfahrung und benötigt bewusste Gestaltung. User Research ist für jede Art von Produkt oder Service relevant, egal ob digital oder physisch.
3. User Research liefert immer bahnbrechende, neue Erkenntnisse
User Research ist kein Stein der Weisen, der von heute auf morgen eine Organisation umkrempelt, weil er revolutionäre Erkenntnisse über Nutzende aufdeckt. Vielmehr geht es darum, eine Kultur der Neugierde zu fördern und Hypothesen durch Erforschung zu testen. Obwohl User Research manchmal überraschende Ergebnisse liefert, können viele Erkenntnisse banal wirken oder augenscheinlich nur das bestätigen, was bereits bekannt ist. Häufig wird Wissen nicht formalisiert und Teams überschätzen das, was sie bereits über Nutzende zu wissen glauben. Für Gestalter:innen und Entscheider:innen ist es von unschätzbarem Wert, ein gutes Verständnis für Nutzende und ihren Kontext zu haben. Zweck von User Research ist nicht, ungeahnte Enthüllungen aufzudecken, sondern ein Verständnis für Nutzende mit ihren Bedürfnissen und Herausforderungen zu gewinnen und dieses als Entscheidungsgrundlage zu nutzen.
4. User Research muss von erfahrenen Researcher:innen durchgeführt werden
Die Demokratisierung von User Research Tätigkeiten wird momentan heiß diskutiert. Unternehmen glauben oft, dass nur spezialisierte Researcher:innen in der Lage sind, erfolgreich Studien durchzuführen. Dementgegen steht die Ansicht, dass es keine Unterstützung durch Expert:innen braucht und keine dezidierten User Researcher:innen eingestellt werden müssen, um Erkenntnisse über Nutzende zu gewinnen.
Produktmanager:innen und Designer:innen sollten in der Lage sein, selbstständig Feedback für ihre Ideen zu sammeln. Das lässt sich über zahlreiche Tools und simple Methoden durchführen, für die nicht zwangsweise erfahrene Researcher:innen eingesetzt werden. Wenn es aber beispielsweise um die grundsätzliche Ausrichtung einer Produkt-/Servicestrategie geht, ergibt es Sinn, erfahrene Expert:innen dazuzuholen, die ein gut durchdachtes Studiendesign entwickeln, das valide Ergebnisse erzielt. Nichtsdestotrotz hilft die Demokratisierung von Research dabei, alle in den Forschungsprozess mit einzubeziehen, um dadurch quer durch die Organisationen ein besseres Verständnis von Nutzenden zu erzeugen. So wird User Research als Haltung in den Arbeitsalltag integriert und nicht als isoliertes, spezialisiertes Arbeitsfeld betrachtet.
5. User Research liefert immer eindeutige Antworten
Idealerweise ist dem gesamten Team im Anschluss an eine Studie klar, was die Ergebnisse für die tägliche Arbeit bedeuten. Das ist allerdings nicht immer so. User Research liefert nicht immer klare und eindeutige Antworten, was in der komplexen Umwelt, in der Organisationen agieren, auch kaum möglich ist.
Unterschiedliche Zielgruppen haben unterschiedliche Anforderungen und auch die Aussagen von Nutzenden sind oft ambivalent. User Research muss nicht immer klare Antworten liefern, sondern ist ebenso hilfreich, wenn es Teams anregt Hypothesen zu hinterfragen und neue Fragestellungen zu entwickeln. User Research muss nicht immer beim Finden von Antworten, sondern bei der Identifikation der richtigen Fragestellungen behilflich sein. Wer schonmal Interviews mit Nutzenden durchgeführt hat, wird schon oft auf widersprüchliche Aussagen von Nutzenden gestoßen sein. Das liegt allerdings nicht an mangelnder Qualität der Forschung, sondern viel mehr an der Natur des Menschen. Diese Widersprüche gilt es aufzuschlüsseln, zu verstehen, und darauf basierend Konzepte zu entwickeln und wieder zu vertesten.
6. User Research sagt uns, wie wir Produkte und Services gestalten sollen
Einige Verantwortliche gehen davon aus, dass User Research konkrete Hinweise für die Gestaltung eines Produkts oder Services liefert und dass die Ergebnisse sofort Möglichkeiten für Innovationen aufzeigen. Tatsächlich liefert User Research zwar wertvolle Informationen für die Gestaltung, aber nicht sofort spezifische, konkrete Lösungen. Das Wissen über Nutzer:innen und ihre Bedürfnisse hilft Gestalter:innen, Probleme zu lösen und die zugrundeliegenden Bedürfnisse der Nutzer:innen zu erfüllen. Es kann jedoch nicht sagen, wie jede Einzelheit des Services gestaltet sein sollte. Die Ergebnisse von User Research können zu Innovationen führen, aber Designlösungen ergeben sich nicht direkt aus der Nutzerforschung. Sie erfordern zusätzliche Überlegungen und entwickeln sich in iterativen Designzyklen weiter, in denen Ideen stetig evaluiert werden.
7. Erfolgreicher User Research bedeutet Nutzer:innen zu fragen, was sie sich wünschen
Unter Benutzerforschung verstehen viele, Nutzer:innen zu fragen, was sie wollen, nach ihren Problemen und deren Lösung zu fragen oder sie zu bitten, neue Funktionen vorzuschlagen. Im Fokus bleiben aber immer, die Bedürfnisse der Nutzenden zu ermitteln und Probleme zu verstehen. Die Entwicklung geeigneter Lösungen ist dann ein kreativer, kollaborativer Prozess, bei dem Nutzer:innen im Sinne der Ko-Kreation dabei sein sollten.
Sie selbst können allerdings nicht die Lösungen präsentieren. Durch sorgfältige Befragung und Beobachtung lernen wir von Menschen und verstehen, wie sie Aufgaben in ihrem typischen Kontext erledigen. Menschen können ihr typisches Verhalten nicht genau beschreiben. Es ist viel einfacher für sie, zu zeigen, was sie tun, indem sie ihre Aufgaben tatsächlich ausführen. Sie wissen, was sie frustriert, und sie können die Probleme beschreiben, mit denen sie konfrontiert sind. Aber es fällt ihnen schwer, sich Lösungen für ihre Probleme auszudenken, oder sich über mögliche zukünftige Funktionen zu äußern. Nutzende können nicht genau vorhersagen, was sie in einer hypothetischen Situation tun, in der Zukunft verwenden oder eben nicht verwenden würden.
Stattdessen konzentriert sich User Research darauf, das Verhalten der Menschen sorgfältig zu beobachten und sie zu befragen, um ihre aktuelle Situation zu verstehen und dadurch potenzielle Verbesserungen zu erkennen.
8. User Research kann nur für die Produkt- und Serviceentwicklung genutzt werden
User Research hat seinen Ursprung im Bereich des Experience-Designs, hat aber viele Parallelen zu klassischer Marktforschung. Es ist ein Irrglaube, dass die Nutzer:innenforschung nur innerhalb von Innovationsprojekten für Produkt- oder Serviceentwicklungen eingesetzt werden kann.
In der Organisationsentwicklung kann User Research helfen, die Bedürfnisse von Mitarbeiter:innen zu verstehen. Dadurch entsteht ein besseres Arbeitsumfeld bzw. eine unterstützende Unternehmenskultur. Wenn wir Frustrationsquellen von Mitarbeitenden identifizieren, können wir Maßnahmen entwickeln, die zur Verbesserung des Arbeitsplatzes beitragen. Auch für die Strategieentwicklung sind User Research Aktivitäten hilfreich. Eine gute Strategie fußt auf Erkenntnissen über Nutzer:innen und integriert dieses Wissen in strategische Frameworks. Beispiele hierfür sind SWOT-Analysen, PESTLE-Analysen, Value Proposition Designs und Business Models.
Insgesamt kann User Research in jeder Situation genutzt werden, in der es notwendig ist, ein besseres Verständnis für die Bedürfnisse und Anforderungen von Nutzer:innen, Mitarbeiter:innen oder Kund:innen zu entwickeln. Ziel hierbei ist immer, bessere Entscheidungen zu treffen und bessere Erfahrungen zu schaffen.
User Research ist ein komplexes, aber faszinierendes Feld. Die Untersuchung des Erlebens und Verhaltens von Menschen stößt immer wieder neue Denkrichtungen an. Sie eröffnet Möglichkeiten für die Gestaltungen von Erfahrungen, die sonst im Verborgenen blieben.
Kommt gerne auf uns zu, wenn ihr eine Fragestellung habt, die ihr näher untersuchen wollt oder gemeinsam an der Entwicklung geeigneter Fragestellungen arbeiten wollt. Wir freuen uns auf eure Anfrage: hello@zero360.de.
Verfasst von:
Mathis Rechenbach