Die Klausurtagung der Geschäftsführung läuft wie immer: Das Führungsteam verschanzt sich für zwei Tage in einem Tagungshotel auf dem Land, diskutiert Kennzahlen und Kunden. Am Ende steht die Strategie: 10% mehr Umsatz, die IT muss endlich aufgeräumt werden und die Prozesse müssen effizienter werden. Wie und warum diese erreicht werden soll, bleibt diffus.
Drei Monate später die ernüchternde Bilanz: Die Strategie versandet in endlosen Alltagsgeschäft, wichtige Stakeholder haben die Strategie nicht verstanden, ein Impuls konnte nicht gesetzt werden. Stattdessen gibt es noch mehr Projekte, die sich gegenseitig blockieren. Ein vertrautes Szenario? Damit bist du nicht allein.
Märkte erfinden sich täglich neu, Kundenbedürfnisse wandeln sich binnen Wochen und disruptive Technologien überholen ganze Branchen über Nacht: Die Halbwertszeit strategischer Entscheidungen ist deutlich geschrumpft, während traditionelle Strategieprozesse noch immer auf der Annahme basieren, dass sich die Welt vorhersagbar entwickelt. Wie kann partizipative Strategieentwicklung hier helfen?
Wenn Strategien an der Realität vorbeischießen
Das Problem beginnt bereits mit einem fundamentalen Denkfehler: Wir gehen davon aus, dass das Management am nächsten am Kunden ist. Die Realität sieht anders aus. Während C-Level-Executives über Quartalsberichte und Marktanalysen grübeln, führen Vertriebsmitarbeitende täglich Dutzende von Kundengesprächen, Service-Teams lösen konkrete Probleme in Echtzeit, und Produktentwickler:innen bekommen ungefilterte Nutzerfeedbacks. Aber ihre Stimmen werden selten systematisch in die Strategieentwicklung einbezogen. Stattdessen verlassen sich Führungsteams auf aggregierte Daten und zweite Hand-Berichte, die wichtige Nuancen verlieren.
Die Frage lautet: Wie gelingt es Unternehmen, sich schnell an Veränderungen anzupassen, innovative Lösungen zu entwickeln und gleichzeitig eine starke Bindung der Mitarbeiter:innen und Kund:innen zu sichern?
Die Antwort darauf lautet: Partizipative Strategieentwicklung. Partizipative Strategieentwicklung durchbricht diesen Kreislauf und schafft automatisch mehr Raum für Kundenperspektiven. Unternehmen werden zu „Outside-in-Organisationen“: Sie denken von außen nach innen und nutzen ihre Kund:innen als Kompass, anstatt ihre interne Logik auf den Markt zu projizieren. Diese Erdung schafft Strategien, die wirklich relevant sind.
Die fünf hartnäckigsten Mythen über partizipative Strategieentwicklung
Mythos 1: „Das dauert zu lange“
Die Realität: Partizipative Strategieentwicklung kann anfangs mehr Zeit in der Entwicklungsphase kosten, spart aber erheblich Zeit bei der Umsetzung. Während traditionelle Strategien oft monatelang in der Kommunikationsphase hängen, weil wichtige Stakeholder nicht abgeholt wurden, starten partizipativ entwickelte Strategien bereits mit breiter Akzeptanz und tiefem Verständnis.
Mythos 2: „Zu viele Köche verderben den Brei“
Die Realität: Es geht nicht darum, 200 Menschen gleichzeitig entscheiden zu lassen. Intelligente Partizipation bedeutet, die richtigen Menschen zur richtigen Zeit in den richtigen Aspekt einzubeziehen. Eine Service-Mitarbeiterin bringt wertvollere Insights zur Kundenzufriedenheit ein als ein Finanzvorstand – und umgekehrt.
Mythos 3: „Mitarbeitende verstehen das große Ganze nicht“
Die Realität: Menschen, die täglich operative Herausforderungen meistern, haben oft ein schärferes Gespür für systemische Zusammenhänge als angenommen. Zudem: Wenn sie das große Ganze nicht verstehen, liegt das meist daran, dass es ihnen nie erklärt wurde – nicht daran, dass sie es nicht verstehen könnten.
Mythos 4: „Das verwässert unsere Strategie“
Die Realität: Unterschiedliche Geschäftsbereiche und Produkte erfordern spezifische strategische Ansätze, die nicht alle von der Geschäftsführung entwickelt werden können. Partizipation schafft strukturierte Prozesse, um diese Bereichsstrategien professionell zu erstellen und intelligent zu einer kohärenten Gesamtstrategie zu koordinieren. So entstehen schnellere, passgenauere Strategien auf allen Ebenen.
Der wissenschaftliche Beweis: Warum partizipative Strategieentwicklung funktioniert
Die Forschung ist eindeutig: Organisationen mit partizipativen Entscheidungsprozessen sind resilienter, innovativer und erfolgreicher. Studien zur kollektiven Intelligenz zeigen, dass diverse Teams bei komplexen Problemlösungen systematisch bessere Ergebnisse erzielen als Einzelpersonen. (McKinsey & Company (2023). „Frontline Employee Engagement in Strategic Decision Making.“)
Besonders beeindruckend: Diese Überlegenheit verstärkt sich in volatilen Marktphasen. Während traditionell geführte Unternehmen in Krisenzeiten oft erstarren oder panische Richtungsänderungen vollziehen, navigieren partizipativ organisierte Unternehmen eleganter durch Turbulenzen. Sie verfügen über bessere „Antennen“ für Veränderungen und können schneller auf neue Gegebenheiten reagieren.
Die Neurowissenschaft liefert eine weitere faszinierende Erkenntnis: Partizipative Entscheidungsprozesse aktivieren andere Gehirnregionen als Top-Down-Entscheidungen. Sie fördern sowohl analytisches als auch kreatives Denken und führen zu dem, was Forscher „hybride Intelligenz“ nennen – der optimalen Kombination aus menschlicher Intuition und systematischer Analyse. (Vgl. Kounios, J. & Beeman, M. (2014). „The cognitive neuroscience of insight.“ Annual Review of Psychology, 65, 71-93.)
Warum ist das so? Partizipation aktiviert drei entscheidende Erfolgsfaktoren:
- Schwarmintelligenz: James Surowiecki’s Forschung zeigt: Die Kombination unterschiedlicher Perspektiven führt zu besseren Entscheidungen als die brillanteste Einzelmeinung – vorausgesetzt, die Gruppe ist divers, unabhängig denkend und dezentralisiert organisiert. (Surowiecki, J. (2004). „The Wisdom of Crowds: Why the Many Are Smarter Than the Few.“ Doubleday.)
- Commitment durch Ownership: Menschen setzen das mit größerer Überzeugung um, was sie mitgestaltet haben. Psychologen nennen dies den „IKEA-Effekt“: Wir schätzen höher, was wir selbst (mit)erschaffen haben.
- Realitätscheck: Strategien werden bereits während der Entwicklung auf Herz und Nieren geprüft, nicht erst bei der Umsetzung. Potenzielle Hindernisse werden früh identifiziert, bevor sie zu kostspieligen Problemen werden. (Norton, M. I., Mochon, D., & Ariely, D. (2012). „The IKEA effect: When labor leads to love.“ Journal of Consumer Psychology, 22(3), 453-460.)
Partizipative Strategieentwicklung: Wo und wie anfangen?
Partizipative Strategieentwicklung beginnt nicht mit einem großen Wurf, sondern mit intelligenten ersten Schritten. Der Schlüssel liegt darin, bestehende Machtstrukturen behutsam zu öffnen, ohne Chaos zu erzeugen:
Schritt 1: Höre systematisch zu
Führe regelmäßige „Strategy Listening Sessions“ mit verschiedenen Unternehmensbereichen durch. Nicht um Entscheidungen zu delegieren, sondern um blinde Flecken zu identifizieren. Beginne mit einer einfachen Frage: „Was siehst du in deinem Arbeitsbereich, das unsere strategischen Annahmen herausfordern könnte?“
Praktischer Tipp: Starte mit informellen Gesprächen beim Kaffee, bevor du strukturierte Formate einführst. Oft entstehen die wertvollsten Insights in entspannter Atmosphäre.
Schritt 2: Schaffe Transparenz
Teile strategische Überlegungen früh und offen. Menschen können nur sinnvoll beitragen, wenn sie den Kontext verstehen. Erstelle ein „Strategy Wiki“ oder regelmäßige Updates, die nicht nur Entscheidungen kommunizieren, sondern auch die dahinterliegenden Überlegungen und Alternativen aufzeigen.
Ein bewährtes Format: In monatlichen „Strategy Stories“ erklären Führungskräfte in 15 Minuten, welche strategischen Entscheidungen sie gerade diskutieren und warum.
Schritt 3: Experimentiere mit Formaten
Teste verschiedene Partizipationsformate: Strategy Jams (intensive 2-Tage-Workshops mit gemischten Teams), Cross-funktionale Task Forces für spezifische strategische Fragen, oder Kunden-Advisory-Boards. Jedes Format hat seinen Platz – finde heraus, was in deiner Unternehmenskultur funktioniert.
Strategy Jams funktionieren besonders gut für Innovation und Disruption, während Task Forces sich für komplexe operative Strategien eignen. Customer Advisory Boards bringen die externe Perspektive ein, die in internen Diskussionen oft fehlt.
Schritt 4: Mache partizipative Strategieentwicklung messbar
Etabliere Kennzahlen für die Qualität der Entscheidungsprozesse:
- Einbeziehung verschiedener Perspektiven
- Umsetzungsrate strategischer Initiativen
- Nachträgliche Korrektur von Strategien
Diese Metriken helfen nicht nur bei der Erfolgsmessung, sondern signalisieren auch organisationsweit, dass Partizipation ernst genommen wird.
- Hier gibt es mehr Informationen, wie partizipative Strategieentwicklung in deiner Organisation aussehen kann.
- Wenn du bereits selbst loslegen willst, dann hilft dir unsere Toolbox für partizipative Strategieentwicklung bei den ersten Schritten.

Verfasst von:
Jonas Holzfäller
Innovative Lösungen, die unsere Welt einfach, unkompliziert und schöner machen treiben Jonas in seiner Arbeit als Organisationsdesigner an. Sein Ziel ist es, Organisationen zu entwickeln, die es Menschen ermöglichen innovative Ideen hervorzubringen. Ko-kreativ gestaltet und implementiert er strategische Lösungen, die zu den individuellen Bedürfnisse von Mensch und Organisation passen.