Dr. Florian Lüdeke-Freund ist Professor an der ESCP Business School und einer, der den Elfenbeinturm der Wissenschaft durchbrechen will. Im Interview erzählt er, was nachhaltige Geschäftsmodelle sind und ob Rentabilität und Nachhaltigkeit wirklich Gegensätze sein müssen.
Nachhaltige Geschäftsmodellmuster. Darum geht es in Ihrer neusten Forschung. Was können wir darunter verstehen?
Geschäftsmodellmuster können eine praktische Inspiration sein bei der Entwicklung von Geschäftsmodellen. Sie bestehen aus einem Problem, das immer wieder auftaucht, und einer Lösung, die sich für dieses Problem bewährt hat. Viele kennen zum Beispiel das Geschäftsmodellmuster Razor and Blade. Hier besteht das Problem darin, den Umsatz zu verstetigen. Die entsprechende Lösung ist, das Angebot in mehrere Komponenten aufzuteilen. Bei Nespresso gibt es zum Beispiel die Kaffeemaschine und die Kapseln. Letztere sind die Umsatztreiber.
Das hat in diesem Fall aber absolut nichts mit Nachhaltigkeit zu tun. Was sagen Sie als Professor for Corporate Sustainability dazu?
Nespresso bietet jetzt an, die Kapseln zu recyceln – eine Pseudolösung für ein Problem, das Nespresso erst in die Welt gebracht hat. In unserem neuen Buch „Sustainable Business Model Design“ (Vorschau) beschreiben wir Green Razor and Blade – ein Geschäftsmodell, das Ressourcen schont. Mein Lieblingsbeispiel hier ist SodaStream. Statt Unmengen an Plastikflaschen zu verbrauchen, kauft man sich einen Sprudler, wiederverwendbare Flaschen und dann regelmäßig Gaszylinder. In diesem Fall haben wir aus ökologischer Sicht einen Vorteil: Je mehr Menschen SodaStream nutzen, desto mehr verdrängen wir Plastikflaschen und produzieren so weniger Plastikmüll. Razor and Blade ist nur ein Muster, eine Inspiration. Es ist per se weder nachhaltig noch unnachhaltig. Es kommt darauf an, worauf ich als Geschäftsmodellinnovator hinaus will: Umsatzwachstum um jeden Preis oder das Anbieten einer nachhaltigeren Alternative?
Was charakterisiert nachhaltige Geschäftsmodelle?
Das ist immer vergleichend. Oft geht es eher um ein „nachhaltiger“ als ein „nachhaltig“. Auch SodaStream hat unterm Strich negative Umwelteinwirkungen. Auch sie verbrauchen Ressourcen. Erst der Vergleich mit einer konventionellen Alternative, in diesem Fall zum Beispiel Plastikflaschen, zeigt die Vorteilhaftigkeit. Sicherlich wäre einfach nur Wasser aus dem Wasserhahn die beste Lösung. Trotz der Notwendigkeit einer Einzelfallbewertung zeichnet sich eine Art Konsens in der Forschung ab, wie man die Wahrscheinlichkeit erhöhen kann, dass Geschäftsmodelle nachhaltiger werden. Im Grunde sind es vier Prinzipien:
Das erste Prinzip ist Nachhaltigkeitsorientierung. Das klingt erstmal nach einem weißen Schimmel – ein nachhaltiges Geschäftsmodell braucht eine Nachhaltigkeitsorientierung. Aber entscheide ich mich nicht bewusst für eine Nachhaltigkeitsorientierung in meinem Geschäftsmodell, wirken die systemischen Kräfte (Kundenwünsche, Regulatorik, der Wettbewerb) und die sind per Default erstmal nicht nachhaltig. Es muss ein bewusster Akt sein, sich für Nachhaltigkeit zu entscheiden. Das System, in dem wir arbeiten und leben, gibt das nicht sonst her.
Das zweite Prinzip ist die Idee einer erweiterten Wertschöpfung. Das bedeutet, dass man nicht nur die finanzielle Wertschöpfung optimiert, sondern grundsätzlich hinterfragt, was Wertschöpfung ist. Dafür muss man alle Stakeholder im Blick haben. So versteht man die Wertschöpfungslogik nicht als rein finanzielle Wertschöpfung, sondern kann Dinge integrieren wie Spaß für meine Mitarbeitenden, Reputation für mein Unternehmen, verlässliche Beziehungen zu meinen Partnern.
Das dritte Prinzip ist systemisches Denken. Ein Unternehmen ist Teil einer Wirtschaft, die ist Teil einer Gesellschaft, die ist Teil des ökologischen Gesamtgefüges. Nur wenn ich die größeren Systeme berücksichtige, erhöhe ich die Chance, dass ich weniger Schaden im sozialen oder ökologischen Gefüge anrichte. So eine Denke wird von klassischen Instrumenten wie dem Business Model Canvas nicht unterstützt – eher das Gegenteil.
Das vierte Prinzip ist Stakeholder-Integration. Man versucht nicht nur, für seine Kunden, Geschäftspartner oder Investoren da zu sein, sondern zu verstehen, mit wem man es noch zu tun hat. Das kann die lokale Nachbarschaft sein, die Medien, die Politik oder indirekt betroffene Stakeholder. Es geht darum, diesen Gruppen Gehör zu schenken, Spannungsfelder zu entdecken und zu versuchen diese aufzulösen. Schwache und oft vergessene Gruppen, zum Beispiel weil diese eine geringe Kaufkraft haben, müssen oft erst bewusst „auf den Radar“ gebracht werden.
Zum Thema Nachhaltige Geschäftsmodelle: Gibt es denn ein Spannungsfeld zwischen Nachhaltigkeit und Rentabilität?
Wenn ich nach einem Spannungsfeld suche, finde ich auch eines. Damit blende ich allerdings viele Optionen aus. Stattdessen sollten wir uns überlegen, wie wir Rentabilität definieren. Nur monetär? Was ist mit ökologischer Rentabilität? Könnte ich Manager nicht auch daran messen, wie stark sie den CO2-Abdruck des Unternehmens reduzieren? Trotzdem gibt es natürlich gewisse Spannungsfelder, sogenannte Tradeoffs. Oft kann ich nur eines optimieren – das finanzielle, ökologische oder soziale Ergebnis. Dann ist die Frage: Kann ich durch Geschäftsmodellinnovation Synergien zwischen den Bereichen herstellen? Kann ich zum Beispiel das Kundenverhalten so verändern, dass das ökologische und nicht das billige Produkt zur Default Option wird?
Es ist also eine Wertefrage: Was ist der übergeordnete Bewertungsmaßstab?
Wo keine Synergien möglich sind, müssen wir uns unter Umständen von Markt- und Unternehmenslogiken verabschieden. Es ist schwierig, Themen wie Gesundheit unter das Unternehmens- und Marktparadigma zu stellen – das sieht man auch bei der derzeitigen Debatte um die Patente der Corona-Impfstoffe. Diese Debatte führen wir nur, weil der Gesundheitsbereich durchökonomisiert ist. Wir können uns gar nicht mehr richtig vorstellen, dass die Gesundheit eine hoheitliche Aufgabe ist, bei der man immer zuerst an den Menschen denkt und alles andere sekundär ist. Es ist also eine Wertefrage: Was ist der übergeordnete Bewertungsmaßstab?
Sie nennen das Ganze Values-Based Innovation bzw. wertebasierte Innovation.
Der Ansatz wurde maßgeblich von meinem engen Kollegen Prof. Henning Breuer, der Professor für Wirtschafts- und Medienpsychologie an der HMKW Berlin ist, geprägt. Innovation ist oft getrieben von der Suche nach dem „nächsten großen Ding“. Dabei hat man eine sehr strategische, technologische und finanzorientierte Ausrichtung – man will ja die Kunden und den Investor glücklich machen. Dahinter liegen gewisse Werte: Erfolg, Selbstverwirklichung, Stärke, Macht und so weiter. Es gibt aber auch eine Menge anderer Werte: Wohlwollen, Gemeinschaftlichkeit, Fürsorge, Verantwortlichkeit, Respekt. Auch bzw. insbesondere diese Werte zeichnen uns Menschen aus und können Innovation treiben. Man muss sich fragen: Wie können diese Werte Quelle und Leitbild für Innovation sein? Das umschließt das Profit- und Machtstreben. Aber eben nicht nur. Und manchmal auch gar nicht. Wir haben es allerdings grundsätzlich aus dem Blick verloren, dass es diese Wertevielfalt gibt und dass man Innovation – und damit auch Geschäftsmodellinnovation – durch alternative Werte motivieren kann und sollte.
Wie schaffen wir es, diese anderen Werte in nachhaltige Geschäftsmodellinnovation einfließen zu lassen?
Im Unternehmen selbst kann man zunächst einmal die bereits vorhandenen Werte herausfinden. Man kann in das Unternehmen reinhören und basierend auf den gefundenen Werten Maßnahmen ableiten. Da können dann erstmal ganz banale Dinge rauskommen, wie Einkaufsleitfäden, aber auch Incentives für gewisse Managementbereiche. Wir besprechen einige Beispielunternehmen, bei denen dies gut funktioniert hat, in unserem 2017 erschienenen Buch „Values-Based Innovation Management“.
Ich glaube, dass sich viele Unternehmen erschrecken würden, wie weit ihre Unternehmens- oder Innovationskultur entfernt ist von dem, was die Menschen in ihrer Organisation wirklich umtreibt. Hören wir hin und finden neue Ansätze für Innovationen, die den Menschen wirklich etwas bedeuten und die bestenfalls einen Beitrag zur nachhaltigen Entwicklung leisten.
Verfasst von:
Diverse Autor*innen