Transformation

Adaptive Strategie

Wie zwei Widersprüche endlich zusammenfinden

Barbara Posern
Juli 17, 2024
12 min Lesezeit

Die Welt verändert sich und Organisationen müssen sich auf einen immer schnelleren und grundsätzlicheren Wandel einstellen. Der Umgang mit Komplexität, Unsicherheit und Unvorhersehbarkeit sowie einer Vielzahl von Widersprüchen gilt als die Herausforderung der Zukunft. Um diese zu bewältigen, sind Organisationen von morgen anpassungs- und lernfähig. Sie befinden sich in einem steten Entwicklungsprozess, der im Wesentlichen durch zielgerichtete Experimente und zukunftsorientierte Iterationen geprägt ist und dabei Veränderungen in der Umwelt stets im Blick behält. Dadurch verändert sich die Rolle von Führung grundlegend: In einer komplexen Welt (und einer Wissensökonomie) gibt es nicht mehr die eine Person, die alles weiß und alles entscheidet. Shared Leadership und Delegation von Entscheidungen sind notwendig, um zeitnah wirksame Ergebnisse zu erzielen und führen darüber hinaus zu einer höheren Identifikation und Motivation der Mitarbeitenden. Um die delegierte Verantwortung übernehmen können, benötigen nicht nur die Mitarbeitenden neue Kompetenzen in einer Vielzahl neuer Methoden, sondern auch die Strukturen und Prozesse der Organisation stehen auf dem Prüfstand. 



Schnelle Anpassungsfähigkeit und hohe Lernfähigkeit bei kurzzyklischer Zielsetzung ist DAS Narrativ der vergangenen Jahre. Unzählige Artikel, Präsentationen, Vorträge und Diskussionen haben es erzählt, geschmückt mit Akronymen wie VUCA oder BANI, untermauert mit Modellen wie Cynefin und Stacey, gekrönt mit den Antworten auf die Herausforderungen der Zeit: Agilität und New Work. 

Und so haben die Mitarbeitenden von Organisationen eine Vielzahl von Trainings absolviert und neue Arbeitsweisen wie Design Thinking, Business und Service Design, Scrum oder Lean Management erlernt. Zunächst ging es um die Innovationsfähigkeit einer Organisation. Ziel war es, kundenzentrierte und einzigartige Angebote zu entwickeln und die Prozesse entlang der gesamten Wertschöpfungskette effizienter zu gestalten.  

Nach und nach wurde deutlich, dass diese Methoden allein nicht ausreichen, um wirklich innovationsfähig zu sein. Sie helfen zwar, gute Ideen zu entwickeln, doch selbst die großartigste Idee reicht nicht aus, um eine Organisation in die Lage zu versetzen, diese erfolgreich in den Markt zu bringen. Warum? Eine Organisation muss in der Lage sein, die Anforderungen einer neuen Idee ganzheitlich umzusetzen. Dies kann die Umsetzung einer konsistenten Customer Journey ebenso umfassen wie die Gestaltung neuer Lieferantenbeziehungen, Vertriebswege, Kommunikationsformen oder Nachhaltigkeitsleistungen.   

Darüber hinaus ist in den letzten Jahren deutlich geworden, dass ein tiefgreifender Wandel in den Organisationen notwendig ist – ein Wandel in der Art und Weise der Zusammenarbeit und im Aufbau der Organisationen. Hierarchien, Silostrukturen und Wasserfallprozesse lassen die heute geforderte Geschwindigkeit nicht zu. Sie erschweren kundenzentriertes Arbeiten und die dafür notwendige bereichsübergreifende Zusammenarbeit und sie widersprechen den Erwartungen, die Arbeitnehmer:innen an moderne Arbeitgeber:innen haben. 

Transformation ist das Zauberwort der letzten Jahre. Viele Unternehmen und Institutionen haben sich auf den Weg gemacht, ihre Organisation neu zu gestalten und es wurde schnell deutlich, dass Transformation kein vorübergehendes Phänomen ist, sondern sich zu einem „Dauerzustand“ entwickelt. Dies wiederum stellt neue Anforderungen an Organisationen. Kurz: Neben der Innovationsfähigkeit rückt zunehmend die Transformationsfähigkeit einer Organisation in den Fokus. Gegenstand der Veränderung ist dabei die Art und Weise, wie sich eine Organisation verändert – und wie sich in diesem Kontext Strategiearbeit, Strukturen und Prozesse, Führungsverständnis, Arbeitsweisen und Kommunikation weiterentwickeln.   



Ich möchte das anfangs erwähnte Narrativ ergänzen: 

Die eigentliche, alles entscheidende Veränderung findet im Denken statt, denn nicht mehr das vorausschauende Planen und konsequente Umsetzen von Strategien wird Einzelpersonen, Teams und Organisationen in der Zukunft erfolgreich machen, sondern die Fähigkeit, aus der Situation heraus die nächstmögliche Zukunft zu gestalten.

Darauf möchte ich im Folgenden näher eingehen. Genauer: auf das Thema Strategie. Neue Begriffe und Denkansätze sind entstanden: agile Strategie, adaptive Strategie oder emergente Strategie. Sie bieten einen neuen Umgang mit Veränderung, Komplexität und Unsicherheit, denn die ursprüngliche Vorstellung einer einmaligen, unveränderlichen Zielsetzung, der Ableitung von Maßnahmen, der Entwicklung eines Plans und dessen konsequenter Umsetzung bis zu einem Zeitpunkt X ist endgültig passé. Warum? Weil diese Art der Strategiearbeit auf Annahmen beruht, die schnell überholt sein können, die möglicherweise ihre Gültigkeit verlieren, sich als falsch oder wenig relevant erweisen können. Auch gibt es kaum Möglichkeiten, auf neue Entwicklungen zu reagieren und Gelerntes einfließen zu lassen.  

Adaptive Strategie heißt nun das Zauberwort. Sie zeichnet sich zunächst durch die Anpassungsfähigkeit aller ihrer Elemente (Ziele, Maßnahmen, Planung, etc.) aus, was grundsätzlich die Bereitschaft zu deren Veränderung voraussetzt. Diese Elemente werden dann in kurzen Zyklen überprüft und gegebenenfalls angepasst. Das Prinzip der Iteration kennen wir z.B. aus dem Design Thinking, und dieses ermöglicht nun Organisationen, schnell auf neue Erkenntnisse und unerwartete Veränderungen zu reagieren und damit neue Chancen zu nutzen. Strategiearbeit wandelt sich also.   



Merkmale adaptiver Strategiearbeit 

Arbeit mit einem Zielbild 

  • Identifikation möglicher Zukünfte bzw. Szenarien, um die eigenen Entwicklungsmöglichkeiten zu erkennen und sich über erstrebenswerte Zukünfte zu verständigen 
  • Entwicklung eines Zielbildes das zeigt, wohin sich die Organisation entwickeln will und welche Zukunft durch Produkte, Dienstleistungen oder andere Beiträge gestaltet werden soll 
  • Identifikation und Priorisierung von Handlungsfeldern für die Entwicklung in Richtung Zielbild 
  • Entwicklung, Initiierung und Organisation von Maßnahmen in den priorisierten Handlungsfeldern 
  • Partizipative und interdisziplinäre Gestaltung all dieser Schritte 

Kontinuierliches Lernen und Iteration  

  • Regelmäßige Überprüfung von Szenarien, Zielbildern und den Strategieparametern durch kontinuierliches Monitoring und konstruktives Feedback 
  • Experimentieren mit neuen Ansätzen, prototypischen Lösungen und iteratives Lernen aus Erfahrungen, Erfolgen und (vermeintlichen) Fehlern 
  • Offenheit und Fähigkeit, schnell auf Veränderungen im Umfeld der Organisation zu reagieren 
  • Iterative Anpassung von Strategien aufgrund neuer Daten und Erkenntnisse 
  • Bereitschaft, bisherige Überzeugungen aufzugeben 

Dynamische Ressourcenzuweisung 

  • Flexible Allokation von Ressourcen entsprechend den sich ändernden Prioritäten    
  • Schnelle Anpassung und Neuausrichtung von Teams 
  • Aufmerksamkeit auf neue Chancen und dringende Probleme lenken 

Dezentralisierung und Empowerment 

  • Strategisches Arbeiten auf allen Ebenen der Organisation 
  • Dezentralisierung von Entscheidungen und partizipative Entscheidungsfindung 
  • Befähigung von Teams auf allen Ebenen, strategische Entscheidungen zu treffen und die Strategie umzusetzen, z.B. mit Hilfe von OKRs 
  • Führungskräfte: Setzen von Rahmenbedingungen für das Handeln von Teams, die dann möglichst selbstorganisiert arbeiten 

Das klingt vertraut. Die Prinzipien des agilen Projektmanagements werden auf die Strategiearbeit übertragen. Schön und gut. Aber einige Fragen drängen sich auf:   

  1. Was gibt Orientierung, wenn alles fluide ist?  
  1. Welche (neuen) Kompetenzen brauchen Organisationen – Mitarbeitende wie Führungskräfte, um dies alles leisten zu können?  
  1. Wenn Strategie immer weniger die Aufgabe der obersten Führungsebene ist – wie können Mitarbeitende auf ihre erweiterte Verantwortung vorbereitet werden? 


1. Orientierung 

Bei der adaptiven Strategieentwicklung steht nicht alles ständig zur Diskussion. Die Organisation erfindet sich nicht jedes Mal neu, sondern es gibt rahmengebende, längerfristige und stabilere Orientierungspunkte, die bei der Entwicklung eines Zielbildes oder der Definition von Maßnahmen genutzt werden. Dazu gehören der Zweck oder Purpose, sowie die expliziten oder impliziten Werte und die Identität der Organisation. 

Purpose 

Neben den Zielbildern ist es vor allem der Purpose, der eine klare Richtung vorgibt. Der Purpose ist der übergeordnete Sinn der Arbeit einer Organisation, die Antwort darauf, warum die Organisation existiert und welchen Beitrag sie für ihre Kund:innen, die Gesellschaft und den Planeten leistet. 

Werte 

Werte bilden die Grundlage der Unternehmenskultur und sind ein Kompass für Entscheidungen. Werte wie Transparenz, Vertrauen, Zuversicht, Lernbereitschaft und Offenheit für Veränderungen dienen als Richtschnur für adaptive Strategien.   

Identität 

Auch die Identität gibt einer Organisation Orientierung – Identität verstanden als die Summe von Historie, Kernkompetenzen, Alleinstellungsmerkmalen, eindeutigen Erkennungszeichen und der Art und Weise, wie das Unternehmen wahrgenommen wird.  


2. Kompetenzen 

Wesentlich für die Umsetzung adaptiver Strategiearbeit ist nicht „Fingerfertigkeit“, sondern ein neues Denken – eine neue Haltung, die Entwicklung und Innovation begrüßt, in Veränderungen Chancen (und nicht primär Bedrohungen) sieht und kontinuierliches Lernen als Teil des Lebens begreift. Es braucht eine Kultur der Offenheit, des Entwicklungswillens, des Miteinanders, der Ko-Kreation und des Experimentierens, die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen und Risiken einzugehen, sowie eine transparente und gewaltfreie Kommunikation. Vor allem braucht es ein Loslassen der Idee, einen Prozess langfristig aufzusetzen und diesen kontrollieren zu können. Vielmehr gilt es, im Hier und Jetzt zu arbeiten, in kurzen Intervallen zu agieren, immer wieder Feedbackschleifen einzubauen. Agiles Arbeiten und Methoden aus dem Design Thinking sind auf der methodischen Ebene sehr hilfreich. 


3. Befähigung und Coaching 

Um zu einer adaptiven Strategieentwicklung und -umsetzung zu gelangen, sind in den meisten Organisationen tiefgreifende Veränderungen notwendig. An dieser Stelle wird die zentrale Rolle der Führung deutlich: Nur wenn die Führung mit der oben beschriebenen Haltung in die Transformation der Strategiearbeit geht und diese neue Kultur glaubwürdig vorlebt, kann die gesamte Organisation in diesem Entwicklungsprozess erfolgreich sein. Geht die Führung nicht mit, wird es in der Regel Widerstände geben. Eine weitere Rollenveränderung liegt darin, zukünftig verstärkt als Coach für Teams und jede:n Einzelne:n zu agieren. Die neue Kultur bedeutet für jeden Mitarbeitenden einen Wandel hin zu mehr Eigenverantwortung einerseits und Teamfähigkeit andererseits. Dies erfordert mehr Selbstreflexion und einen souveränen Umgang mit Spannungen, Unsicherheit und Ergebnisoffenheit. Die Liste ist lang – und es ist die Aufgabe der Führungskräfte, ihre Teams auf dieser Reise des Lernens zu unterstützen.


Die Kunst besteht nun darin, zu erkennen, wo genau eine Organisation steht und welche nächsten Schritte tatsächlich anschlussfähig sind. Oft wird zu viel auf einmal versucht, auch der Grad des Neuen ist in vielen Transformationsprozessen zu hoch.   

All dies erfordert Metakompetenzen: insbesondere Kenntnisse und Erfahrungen in systemischer und integraler Organisationsentwicklung, um einen ganzheitlichen Blick auf Veränderung zu realisieren.   

Abschließend hier noch eine weitere Ergänzung des Narrativs:  

Für all das ist etwas fast Verrücktes erforderlich, etwas, das in unserer nach wie vor kartesianisch geprägten Geschäftswelt völlig irritierend wirkt: Gefühle bzw. der Zugang zu den eigenen Gefühlen und die Fähigkeit, diese als Quelle wertvoller Informationen zu nutzen. 

Verfasst von:

Barbara Posern

Barbara begleitet Organisationen, Teams und Menschen in Transformationsprozessen und verbindet dabei ihre Expertise als Designerin mit ihrer Erfahrung als Coach und strategische Beraterin. Ihr Lieblingsthema: Kunden zu befähigen, neue Lösungen zu entwickeln und auch umzusetzen – ko-kreativ, agil und nutzerzentriert.

Zum Profil

Einblicke, Studien und Inspiration

Erhalte unseren Newsletter

Weitere spannende Artikel